Sozialversicherungsfrei? Rechtsanwältin mit Umsatzbeteiligung
Selbst ist der Mann – oder die Frau. Der Duft von Freiheit, Unabhängigkeit und Ungebundenheit – er ist trügerisch. Die soziale Absicherung kann Einbußen erleiden. Freiberufler wie Rechtsanwälte, Steuerberater oder Journalisten beachten besondere Regeln, wenn sie vielen Herren dienen.
Inwiefern kann Selbständigkeit die soziale Absicherung von Freiberuflern beeinträchtigen?
Rechtsanwälte können beispielsweise selbständig für eine andere Kanzlei tätig werden. Das ist dann mitunter eine nicht einfache Situation für die Lohnbuchhaltung. Beschäftigung freier Mitarbeiter kann schnell ein verdecktes Beschäftigungsverhältnis sein. Oder: Was gilt bei der Sozialversicherung, wenn ein freiberuflich tätiger Steuerberater seine Praxis veräußert und anschließend dort weiterarbeitet? Ist ein dann weiterhin versicherungsfrei, oder fallen Beiträge an? Und wer hat die zu entrichten – die Firma oder der Berater persönlich?
Und so oder so ähnlich können die Fallkonstellationen auch bei Journalisten aussehen, die im Zeitalter von Internet sowieso schon kaum auf eine Festanstellung bei einem Rundfunksender oder Verlag zu hoffen brauchen. Um die Honorare möglichst niedrig zu halten, verpflichten sich freie Journalisten regelmäßig dazu, alle Sozialkosten selbst zu tragen. Der Auftraggeber hat damit also überhaupt nichts mehr zu schaffen. Der wesentliche Knackpunkt ist immer die Einstufung durch die Deutsche Rentenversicherung.
Welche Rolle spielte die Deutsche Rentenversicherung?
Sie entscheidet aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, ob jemand als sozialversicherungsfrei oder -pflichtig eingestuft wird. Oft erfolgt die Einstufung mithilfe eines Statusfeststellungsverfahrens; das ist bindend – soweit nicht ein Gericht letztlich das anders entscheidet. Das aber kann mal so und mal so ausfallen. Nicht immer liegt eine solche Entscheidung vor, dann kommt es stets auf den Einzelfall an. Und das führt manchmal zu überraschenden Urteilen, wie die Rechtsprechungen zu den beiden erstgenannten Fallkonstellationen Rechtsanwalt und Steuerberater zeigen.
Wie geht die Deutsche Rentenversicherung bei Statusbeurteilung vor?
Sie geht bei der Eingruppierung immer vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen aus. Im Fall des Steuerberaters gab es keine schriftlichen Verträge, die den Standpunkt der Steuerberaterfirma hätten unterstützen können, Liegen dagegen schriftliche Vereinbarungen vor, prüft die Deutsche Rentenversicherung die Ernsthaftigkeit und tatsächliche Durchführung der dokumentierten Regelungen. Die alleinige vertragliche Vereinbarung einer selbstständigen Tätigkeit durch die Vertragsparteien reicht nicht aus. Die tatsächliche rechtliche Einordnung ergibt sich aus der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses.
Worum ging es in dem Streitfall Rechtsanwalt?
Um eine Rechtsanwältin. Sie war in der Zeit vom 01.01.2010 bis zum 31.03.2016 für einen Rechtsanwalt auf selbstständiger Basis tätig. Aufgrund eines Inserats im Oktober 2009 bewarb sie sich als freie Mitarbeiterin bei diesem Rechtsanwalt. Zusammen traf man über die Tätigkeit keine schriftliche Vereinbarung. Das Honorar erfolgte ausschließlich über eine Beteiligung am Umsatz. Dessen Höhe war von der Anzahl der bearbeiteten Mandate der Anwältin abhängig. Diese rechnete 40 Prozent ihres monatlichen Nettoumsatzes ab. Gebühren und Auslagen für ihre anwaltliche Tätigkeit forderte sie selbst von den Mandanten an. Die von ihr unterschriebenen Rechnungen an die Mandanten erfolgten unter dem Briefkopf der Kanzlei ihres Auftraggebers.
Die Mandanten zahlten die von ihnen geschuldeten Kosten auf das Kanzleikonto des Auftraggebers ein. Die Anwältin stellte diesem monatlich Honorarrechnungen. In der Kanzlei des Auftraggebers hatte die Anwältin ein eigenes Zimmer. Sie konnte die Lizenzen des Auftraggebers für die juristischen Datenbanken nutzen. Die Aufwendungen für die Berufshaftpflichtversicherung und für die Fortbildung trug die Anwältin selbst. Die Aktenführung erfolgte über das Sekretariat des Auftraggebers. Nach einem Streit zwischen der Anwältin und dem Auftraggeber wurde die Tätigkeit am 31.03.2016 beendet.
Worum stritten die Parteien?
Um den Status der Rechtsanwältin. Sie beantragte am 17.05.2017 bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund ein Statusfeststellungsverfahren. Im Antrag führte sie folgende Umstände ins Feld:
- Der Auftraggeber habe ihr die Mandate zugewiesen und auch wieder.
- Der Auftraggeber habe ihr zahlreiche Weisungen erteilt.
- Der Auftraggeber habe Zugriffsmöglichkeiten auf sämtliche Schriftsätze und Daten gehabt.
- Das Sekretariat des Auftraggebers habe ihre Arbeit kontrolliert.
- Der Auftraggeber habe selbst ihren persönlichen Kalender kontrolliert.
- Der Auftraggeber habe verlangt, dass sie während der Bürozeiten in seiner Kanzlei zu sein hatte.
- Sie sei verpflichtet gewesen, regelmäßig an Besprechungen teilzunehmen.
Wie sah die Clearingstelle das Verhältnis der Parteien?
Sie stellte mit Bescheid vom 29.09.2017 fest, dass die Rechtsanwältin in der Zeit vom 01.01.2010 bis zum 31.03.2016 bei ihrem Auftraggeber in einer abhängigen Beschäftigung gestanden habe. Es habe somit Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bestanden.
Stimmte der Auftraggeber der Rechtsanwältin dem zu?
Nein. Er klagte gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid am 19.03.2018 beim zuständigen Sozialgericht (SG) Konstanz. Mit Urteil vom 27.07.2020 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Dagegen legte der Arbeitgeber am 08.08.2020 Berufung ein. Mit Urteil vom 02.08.2022 (Az.: L 11 BA 2492/20) hob das LSG das Urteil des SG auf. Das SG, so die Richter des LSG, habe die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Deutschen Rentenversicherung sei rechtswidrig und verletze den Arbeitgeber in seinen Rechten. Bei der Rechtsanwältin habe keine abhängige versicherungspflichtige Beschäftigung vorgelegen.
Eine erstaunliche Wendung – welche Gründe hatte das LSG?
Seiner Einschätzung nach überwogen die Merkmale einer Selbstständigkeit, weil:
- ein umfassendes Weisungsrecht nicht bestanden habe und vom Auftragsgeber auch nicht wahrgenommen worden sei.
- Die Anwältin habe dem Auftraggeber nicht zugearbeitet, sondern Fälle selbstständig abgewickelt; sie hat also beispielsweise keine Entwürfe oder Gutachten für den Auftraggeber gefertigt.
- Die monatliche Vergütung der Anwältin sei ausschließlich über eine Beteiligung am monatlichen Nettoumsatz der von ihr bearbeiteten Mandate erfolgt.
Aber die Anwältin war doch in die Kanzlei eingebunden?
Das spielte für das LSG nur noch eine untergeordnete Rolle; die drei Aspekte hielten die Richter für entscheidend.
Worum ging es in dem Streitfall Steuerberater?
Um einen Vater-Sohn-Konflikt, wenn man so will. Der bewusste Steuerberater führte mit seinem Sohn eine Steuerberatersozietät. Ende eines Kalenderjahres veräußerte er seine Anteile daran. Sein Sohn blieb weiter aktiv, brachte die vormalige Sozietät in eine neue Partnergemeinschaft mit einem zuvor bei der Sozietät beschäftigten Berater ein. Der Vater als ausgeschiedener Steuerberater arbeitete in der neuen Gemeinschaft weiterhin mit. Als freier Mitarbeiter betreute er wie zuvor seinen alten Kundenstamm, arbeitete neue Mitarbeiter ein und übernahm Aufgaben von der Abholung von Geschäftsunterlagen bis hin zur Beratung von Unternehmen. Hierfür erhielt er ein monatliches Gehalt von anfänglich 6.000 Euro, später erhöht auf 6.700 Euro, sowie eine Erfolgsbeteiligung. Die Sozietät behandelte ihn, den Steuerberater-Vater, als Selbstständigen sozialversicherungsfrei und führte keine Beiträge ab.
Das ging solange gut, bis der Prüfer bei einer Sozialversicherungsprüfung die Beschäftigung als Arbeitnehmertätigkeit sozialversicherungspflichtig einstufte und fällige Beiträge nachberechnete. Die summierten sich samt Säumniszuschlägen auf mehr als 23.000 Euro, zu tragen von der Firma des Sohnes.
Fallen solche Zuschläge häufig an?
Ja, bei Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen fallen sie regelmäßig an. Sie betragen für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Prozent des rückständigen, auf 50 Euro abgerundeten Betrages. Davon wird nur abgesehen, wenn Unternehmer oder Geschäftsführer glaubhaft darlegen, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte.
War die Firma damit einverstanden?
Nein, sie wehrte sich gegen den Prüfbescheid und verlangte weiterhin die Sozialversicherungsfreiheit für die Bezüge – und bekam zunächst recht. Im Berufungsverfahren wurde das Urteil jedoch aufgehoben, die Beitragsforderung lebte wieder auf. Es folgte die Klage vor dem Landessozialgereicht (LSG) Bremen-Niedersachsen in letzter Instanz (Urteil vom 17.03.2023, Az.: L 2 BA 38/22).
Wie sahen die Bremer Richter die Sache?
Die Richter entschieden, dass es sich nach Veräußerung der Geschäftsanteile um eine abhängige Beschäftigung gehandelt habe. Sie argumentierten, wenn ein Steuerberater nach der Veräußerung seiner kompletten Anteile an der Kanzlei weiter für diese tätig ist, komme es für die Folgezeit zu einer neuen sozialversicherungsrechtlichen Statuszuordnung. Dabei sei die Mitarbeit in einem für ihn fremden Unternehmen zugrunde zu legen. Der Steuerberater sei in die Arbeitsabläufe der Kanzlei eingegliedert. Er selbst habe kein unternehmerisches Risiko getragen. Die Bezeichnung als freier Mitarbeiter ändere daran nichts. Auch der Umstand, dass im Prüfungszeitraum der ausgeschiedene Steuerberater nach außen hin zwar oft weiter als „Chef“ und „Senior“ aufgetreten sei, ändere nichts daran, dass er in die Arbeitsabläufe des Steuerberatungsunternehmens funktionsgerecht eingegliedert war. Folge: Die Beitragsnachforderung gegenüber der Steuerberaterkanzlei aufgrund der DRV-Prüfung ist rechtens.
Ist der Freiberufler nicht automatisch selbständig?
Nein. Die fachliche Unabhängigkeit sei für Freiberufler typisch, stellten die Richter fest. Daraus könne jedoch nicht automatisch auf eine selbstständige Tätigkeit und eine fehlende Versicherungspflicht geschlossen werden. Das gelte nicht nur für Steuerberater, sondern etwa auch für Ärzte. Etwas launisch verwiesen die Richter auf ein älteres BSG-Urteil: Eine „Schönwetter-Selbstständigkeit“, die sich ausschließlich daraus ableitet, dass dem Betroffenen in harmonischen Zeiten freie Hand gelassen wird, während im Falle eines Zerwürfnisses dessen „Weisungsunterworfenheit“ zum Tragen käme, wollten die Richter nicht anerkennen. Dies sei bei der Statusbeurteilung stets mit einzubeziehen.