10.02.2022

Homeoffice und gesetzlicher Unfallversicherungsschutz

Bleibe im Homeoffice und nähre dich redlich. So könnte man frei nach der Lutherbibel raten. Was der Psalm 37 noch nicht berücksichtigte: ist die Arbeit bei einem Betriebsunfall im Homeoffice versichert? Hierzu hat das Bundessozialgericht gegen Ende 2021 ein überraschendes Urteil gefällt.

Homeoffice Unfallversicherungsschutz

Betriebsunfall im Homeoffice – gibt’s so was?

Auch im Homeoffice kann einiges passieren: man rutscht auf dem Weg vom Badezimmer zum Büro aus, stolpert auf der Treppe oder bricht sich im heimischen Korridor zwischen Wohnstube und Heimbüro den Arm. Laut Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gewinnt die Arbeit im Homeoffice – nicht zuletzt aufgrund der Pandemie – immer mehr an Bedeutung.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Pandemie und Homeoffice?

Die DGUV sieht ihre Zahlen des Berichtsjahres 2020 unter dem maßgeblichen Einfluss der Covid-19-Pandemie. Bedingt durch die Krise schickten die Unternehmen viele Beschäftigte ins Homeoffice, „oftmals ohne Erfahrungen mit dieser digitalen Arbeitsform“, so die DGUV. Es macht seine Sichtweise an den Auswirkungen dieser Sondersituation fest:

  • Im Bereich der Unfallversicherung (UV) der gewerblichen Wirtschaft und der UV der öffentlichen Hand ereigneten sich 2020 insgesamt 760.492 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, 12,74 Prozent weniger als im Vorjahr. Das Arbeitsunfallrisiko je 1.000 Vollarbeiter sei mit einem Wert von 18,45 um 12,02 Prozent gesunken.
  • Im Jahr 2020 waren der DGUV zufolge 13.227 schwere Arbeitsunfälle zu verzeichnen, bei denen es zur Zahlung einer Rente oder eines Sterbegelds gekommen sei. Damit sei das Risiko je 1.000 Vollarbeiter, einen schweren Arbeitsunfall zu erleiden, von 0,322 im Vorjahr auf 0,321 im Jahre 2020 um 0,2 Prozent Bei den tödlichen Arbeitsunfällen sei gegenüber dem Vorjahr eine Abnahme um 98 Fälle auf 399 Todesfälle zu verzeichnen.
  • Bei den 152.823 meldepflichtigen Wegeunfällen in der gewerblichen Wirtschaft und bei den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand sei das Unfallrisiko je 1.000 Versicherungsverhältnisse mit 3,05 gegenüber 3,61 im Vorjahr um 15,4 Prozent gesunken.
  • Bei den 4.413 neuen Wegeunfallrenten sei das Unfallrisiko je 1.000 Versicherungsverhältnisse von 0,089 im Vorjahr auf 0,088 2020 leicht gesunken (-1,4 Prozent). Die Zahl der tödlichen Wegeunfälle sei von 309 auf 238 stark zurückgegangen.

Tipp der Redaktion

Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel aus dem „GmbH-Brief AKTUELL“ (Ausgabe 08/2021). Sie interessieren sich für das Thema GmbH/Geschäftsführung? Als Geschäftsführer sind sie hier genau richtig… Unser Beratungsbrief „GmbH-Brief AKTUELL“ informiert Sie monatlich rechtsicher über alle aktuellen Neuerungen in Sachen Steuerrecht, Haftungsfragen und wichtigen Belangen der Geschäftsführung. Praxisnah mit konkreten Arbeitshilfen und Handlungsempfehlungen! Nehmen Sie live an regelmäßigen Online-Seminaren teil und nutzen Sie den Kontakt zu unseren Experten im Seminar oder jederzeit auch per Email für Ihre persönlichen Fragen.

Kann man dem Unfallgeschehen im Homeoffice irgendwie Einhalt gebieten?

Die DGUV versucht mit Arbeitshilfen und Informationen den Unternehmen Unterstützung zu geben, damit die Arbeitsbedingungen dort stimmen und das Arbeiten von zu Hause gelingt. Das ist offenbar immer weniger der Fall. So gingen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften und den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand im ersten Halbjahr 2021 Meldungen von insgesamt über 440.000 meldepflichtigen Unfällen ein, im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020 eine Zunahme von neun Prozent. Dabei legten Arbeitsunfälle um sieben Prozent zu, die Wegeunfälle aber weit stärker um 18,8 Prozent. Dabei hatte es noch ein Jahr zuvor von 2019 zu 2020 einen Rückgang bei den Wegeunfällen um 15 Prozent gegeben. Da konnte man noch mutmaßen, dass möglicherweise das Homeoffice hier eine segensreiche Wirkung entfalten haben mochte: kein Weg zur Arbeit, kein Unfall auf dem Weg zur Arbeit. Aber stimmt das? Offenbar nein!

Zur Frage, was ein Arbeitsunfall und was ein Wegeunfall ist, empfehlen wir Ihnen die Lektüre unseres Beitrages „Arbeitsunfall – wann haftet die GmbH“.

Ist Ihr Mitarbeiter im Homeoffice gegen Betriebsunfälle versichert?

Das war bis vor gar nicht so langem nicht so. Bislang galt zwar bereits:

  • Beschäftigte stehen bei mobiler Arbeit – zum Beispiel im Homeoffice – unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
  • Versichert waren neben der eigentlichen Arbeitstätigkeit auch sogenannte Betriebswege wie der Weg zum Drucker in einem anderen Raum.
  • Anders als im Betrieb waren hingegen im eigenen Haushalt Wege, um zum Beispiel ein Getränk oder etwas zu essen zu holen oder zur Toilette zu gehen, regelmäßig nicht versichert.

Kaum zu glauben! Das hat man immer so hingenommen?

In der Tat. Und nein: darüber hat es Streit gegeben, der bis zum Bundessozialgericht hoch 2021 ging. Dabei war ein Arbeitnehmer bereits viele Jahre für seine Arbeitgeberin als Gebietsverkaufsleiter im Außendienst versicherungspflichtig beschäftigt. In der Unfallanzeige an die zuständige Versicherung gab die Arbeitgeberin an, dass der Beschäftigte im Homeoffice im dritten Stock des Hauses aus den Wohnräumen im vierten Stock in die Büroräume die Treppe abwärts stürzte. Er zog sich dabei demzufolge einen Brustwirbeltrümmerbruch zu.

Die zuständige Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Es habe kein Arbeitsunfall vorgelegen, begründete sie dies. Der Sturz habe sich im häuslichen Wirkungskreis und damit nicht auf einem versicherten Weg ereignet. Gegen den ablehnenden Bescheid des Unfallversicherungsträgers legte der betroffene Arbeitnehmer Widerspruch ein. Die Berufsgenossenschaft gab dem Widerspruch nicht statt. Begründung: Auf einem Weg von den Privaträumen in den betrieblichen Bereich zum Zweck der Arbeitsaufnahme beginne der gesetzliche Unfallversicherungsschutz grundsätzlich erst mit dem Erreichen der Betriebsräume.

Ließ sich der Arbeitnehmer das gefallen?

Nein, er erhob beim zuständigen Sozialgericht (SG) Aachen (Az.: S 6 U 5/19, 14.06.2019) Klage. Er legte dar, er wollte am Unfalltag die Arbeit aufnehmen, sodass der Sturz auf der Treppe sich im Rahmen seiner Tätigkeit für seine Arbeitgeberin ereignete. Das SG gab der Klage statt. Die Richter urteilten, es läge ein Arbeitsunfall vor. Die beurteilende Kammer kam zur Überzeugung, dass das Hinabsteigen der Treppe in seinem Wohnhaus in einem sachlichen Zusammenhang zu seiner versicherten Tätigkeit als Gebietsverkaufsleiter gestanden habe. Der klagende Arbeitnehmer habe zum Zeitpunkt des Sturzes einen versicherten Betriebsweg zurückgelegt. Hier habe die höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Grenze gezogen:

  • zwischen einer unversicherten Tätigkeit im häuslichen Lebensbereich und
  • dem versicherten Zurücklegen eines Betriebswegs.

Diese Grenze gelte grundsätzlich auch bei einer Tätigkeit im Homeoffice.

War nun Frieden?

Wieder nein. Jetzt legte die BG gegen das Urteil des SG Berufung beim zuständigen Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ein. Sie machte geltend, hier käme allein die Annahme eines versicherten Wegs zur Arbeit in Betracht. Im Homeoffice scheide sie mangels Durchschreitens der Haustür des Wohnhauses aus. Innerhalb des Hauses sei ein Betriebsweg nur versichert, wenn dieser die versicherte Tätigkeit selbst darstelle. Das sei hier aber zu verneinen. Der innerhäusige Weg zur erstmaligen Arbeitsaufnahme im Homeoffice sei nicht versichert.

Wie sah das LSG das?

Wie die BG: In seinem Urteil vom 09.11.2020 (LSG NRW Az.: L 17 U 487/19), veröffentlicht am 15.01.2021, entschied es:

  • es liegt kein gesetzlicher Unfallversicherungsschutz vor, wenn ein Arbeitnehmer, der im Homeoffice tätig ist, auf dem Weg von seiner Wohnung in sein Büro auf der Treppe stürzt und sich dabei verletzt.

Die Richter des LSG Nordrhein-Westfalen sahen, anders als die Kollegen des SG, hier durch den Sturz keinen Arbeitsunfall. Ein gesetzlicher Unfallversicherungsschutz zum Zeitpunkt des Treppensturzes scheitere an folgenden Mängeln:

  • die Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses, also das Herabsteigen der Treppe von der vierten in die dritte Etage seiner Wohnung, ist kein Wegeunfall,
  • weder als Zurücklegen eines unmittelbaren Wegs von und nach der Tätigkeit,
  • noch in einem sachlichen Zusammenhang zu seiner versicherten Tätigkeit als Gebietsverkaufsleiter.
  • Die Annahme eines Betriebswegs scheide aus, weil sich der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Treppensturzes auf dem Weg in sein Arbeitszimmer zur erstmaligen Aufnahme seiner versicherten Tätigkeit am Unfalltag befand.

Immerhin: Die Richter des LSG ließen die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) zu. Sie maßen der Frage, ob der Weg zur erstmaligen Aufnahme der versicherten Tätigkeit im Homeoffice unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, grundsätzliche Bedeutung bei.

Keine gute Nachricht für den Beschäftigten, oder?

Zunächst bei LSG NRW nicht. Doch dann änderte sich die Situation grundlegend. Und das auf zwei Ebenen.

Mitte 2021 änderte sich die gesetzliche Lage. Der Gesetzgeber hielt die bisherige Unterscheidung von Arbeitsunfall und Homeoffice nicht mehr für haltbar. Sie lasse sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung mobiler Arbeitsformen nicht aufrechterhalten, begründete er die Gesetzesänderung. Daher bestimmt das Gesetz seither:

  • bei mobiler Arbeit besteht im selben Umfang Versicherungsschutz wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.

Vom Homeoffice sind auch Familienangehörige betroffen. Wie steht es damit?

Auch daran hat der Gesetzgeber gedacht. Schon immer gilt:

  • Für Beschäftigte, die im Betrieb arbeiten, besteht Versicherungsschutz, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit einen Umweg machen, um ihr Kind zur Kita oder zur Schule zu bringen.
  • Für Beschäftigte im Homeoffice waren Wege, um Kinder in Betreuung zu geben, bislang nicht versichert.

Das hat sich seit Juni 2021 geändert:

  • Bringen Beschäftigte ihr Kind, das mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt lebt, aus dem Homeoffice zu einer externen Betreuung, stehen sie auf dem direkten Hin- und Rückweg unter Versicherungsschutz. Dies, so die Gesetzesbegründung, sei auch im Interesse der Unternehmen, um die neuen Beschäftigungsformen ihrer Mitarbeiter abzusichern.

Juni 2021 war auch sonst für Sie als Arbeitgeber ein entscheidendes Datum in diesem Zusammenhang. Da lief die „Bundesnotbremse“, das Notmaßnahmenpaket des Bundes zur Bekämpfung der Pandemie aus – und damit Ihre Verpflichtung als Arbeitgeber, Ihren Arbeitnehmern die Tätigkeit im Homeoffice zu ermöglichen.

Und die zweite Ebene? Was sagt das Bundessozialgericht (BSG) dazu?

Es tagte rund ein halbes Jahr nach der Gesetzesänderung am 08.12.2021 (Az.: B 2 U 4/21 R). Die Revision des Klägers dort war erfolgreich. Der Weg zur erstmaligen Arbeitsaufnahme war nach Ansicht der obersten Sozialrichter als Betriebsweg versichert. Ausnahmsweise sei ein Betriebsweg, so diese in ihrer Begründung in Fortführung ihrer bisherigen Sichtweise (Urteil vom 5.7.2016 – B 2 U 5/15 R), auch im häuslichen Bereich denkbar, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte im selben Gebäude befinden. Ob ein Weg als Betriebsweg im unmittelbaren Unternehmensinteresse zurückgelegt wird und deswegen im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, bestimme sich auch im Homeoffice nach der objektivierten Handlungstendenz des Versicherten, also danach:

  • wollte dieser bei der zum Unfallereignis führenden Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben und
  • wird diese Handlungstendenz durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt (Urteil vom 31.8.2017 – B 2 U 9/16 R).

Nach den bindenden Feststellungen des LSG habe das Beschreiten der Treppe allein der Arbeitsaufnahme des Klägers im häuslichen Büro (Homeoffice) in der dritten Etage seiner Wohnung gedient.

Übrigens: Auch sonst ist die Grenzziehung zwischen privat und Betrieb nicht ohne Belang, wie Sie unserem Beitrag „Berufskleidung: Wo hört Beruf auf, wo fängt Privat an?“ entnehmen können.

Autor*in: Franz Höllriegel