Nudging: erwünschtes Verhalten provozieren
Wenn ich mir die Maßnahmenpläne in Audits anschaue, steht dort sehr häufig als einzige Maßnahme „Mitarbeiter unterwiesen“. Selbst wenn Fehler immer wieder auftauchen, ist das meist die einzige Lösung der Führungskräfte vor Ort. Wir als Qualitäter sollten uns damit aber nicht zufriedengeben. Eine Möglichkeit, die sich uns bietet, ist das sog. Nudging. Lesen Sie hier, wie diese tolle Methode funktioniert.
Wir kennen alle Beispiele aus unserem persönlichen Alltag: die Handtücher in Hotels, die auf den Boden geworfen werden müssen, wenn man sie als zu schmutzig erachtet oder auch die teuren Markenprodukte in bequemer Griffhöhe im Supermarktregal. All das ist Nudging – im ersten Fall der Umwelt zuliebe, im zweiten zugunsten der Umsätze.
Wie treffen wir Entscheidungen?
In der Wissenschaft hat man schon vor langer Zeit festgestellt, dass der Mensch Entscheidungen auf zweierlei Arten treffen kann:
- unbewusst: Hier ist dann eher der archaische Teil unseres Gehirns aktiv. Entscheidungen werden im Bruchteil einer Sekunde getroffen und münden in Aktionen. Wir agieren also eher intuitiv, aus dem Bauch heraus.
- bewusst: Solche Entscheidungen werden meist rational getroffen, das Für und Wider wird gegeneinander abgewogen, Informationen fließen ein usw. Hier dauert der Entscheidungsprozess deutlich länger.
Ein Großteil unserer Entscheidungen wird eher unbewusst getroffen. Wir bleiben also z.B. an einer roten Ampel einfach stehen, weil wir schon als Kind gelernt haben, nur bei Grün über die Straße zu gehen. Wollen wir diese Regel aber missachten, dann wird unser bewusstes Gehirn aktiv. Wir setzen dem Regelverstoß z.B. gegenüber, dass wir den einfahrenden Bus verpassen und welche Folgen das mit sich bringt, wägen ab, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, erwischt zu werden usw., und entscheiden uns dann vielleicht anders.
Nudging ist eine subtile Entscheidungshilfe
Der Begriff Nudge (engl. für Stups oder Schubs, im Grunde Denkanstoß) stammt aus der Verhaltensökonomie. Richard Thaler und Cass Sunstein verwenden den Begriff in ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“. Dort wird „Nudging“ als Methode zur Veränderung von Entscheidungsarchitekturen beschrieben. Mithilfe von Vorschlägen, indirekten Hinweisen oder Änderungen von Umgebungsinformationen sollen die Motive, Anreize und Entscheidungen von Personen beeinflusst werden – und zwar ohne Bestrafung, Zwang oder Verbote.
Oft ist es nämlich so, dass Menschen sich falsch entscheiden. Sie kennen es vielleicht selbst. Sie stehen in der Kantine vor dem Obst und greifen intuitiv lieber zur Süßigkeit. Und genau hier greifen Nudges an. Nudges helfen uns, die besseren Entscheidungen zu treffen. Die Erfinder der Nudges, Thaler und Sunstein, haben erkannt, dass Entscheidungen stark vom Umfeld abhängig sind. Ihre Annahme war demnach, dass man das Umfeld so gestalten
kann, dass Verhalten positiv beeinflusst wird.
Nudging ist kein Poka Yoke
Poka Yoke ist eine japanische Methode, die unbeabsichtigte Fehler eines Mitarbeiters ausschaltet. Hierbei nutzt sie z.B. Formen, die einen falschen Zusammenbau verhindern. Ein Beispiel dafür ist die SIM-Karte des Handys, die aufgrund der fehlenden Ecke nur auf eine Art und Weise ins Mobilgerät eingelegt werden kann. Oberste Zielsetzung ist die Vermeidung aller auftretenden Fehler. Gerade in der Arbeitssicherheit wird häufig mit Poka Yoke gearbeitet. So vermeiden z.B. Lichtschranken, die zur Abschaltung der Maschine führen, die Verletzung von Mitarbeitern.
Im ersten Moment mögen einige von Ihnen denken, Nudging ist doch nichts anderes als Poka Yoke. Doch weit gefehlt. Sicherlich zielen beide Methoden darauf ab, dass Mitarbeiter richtig handeln. Jedoch lässt ein Nudge alle Optionen zu, während Poka Yoke die falsche Vorgehensweise möglichst vollständig eliminiert.
Welche Arten von Nudges gibt es?
Wollen wir Nudges in Kategorien einteilen, können wir z.B. die folgenden nutzen:
- physische Nudges: Sie sind oft im öffentlichen Raum zu finden. So sind z.B. Treppen bewusst im Vordergrund und attraktiv gestaltet, um ihnen so gegenüber der Rolltreppe oder dem Fahrstuhl den Vorzug zu geben. Oder der Kalorienverbrauch je Stufe oder Etage ist abgedruckt und soll zum gesünderen Verhalten animieren. Auch wirkt die Positionierung von Lebensmitteln sehr stark auf unser Kaufverhalten. Artikel im direkten Griffbereich werden häufiger gekauft als z.B. Dinge, die im Fußbereich zu finden sind. Dort unten wäre also ein idealer Standort für stark zuckerhaltige Getränke.
- digitale Nudges: Dies sind z.B. Voreinstellungen in der IT wie etwa der bereits angewählte Button „beidseitig“
beim Drucken. Auf diese Weise wird Papier gespart. - soziale/ökologische Nudges: In Hotels werden z.B. Handtücher in der Regel nur getauscht, wenn diese auf dem
Boden oder in der Wanne liegen. Hängt man also morgens in Gedanken sein Handtuch an den Haken, hilft dies
automatisch, die Umwelt zu schonen. Ein anderes, in den vergangenen Jahren häufig diskutiertes Thema ist die
Organspende. In einigen Ländern gilt die Regel: Wer nicht widerspricht, ist automatisch Organspender. Die Bequemlichkeit vieler Menschen führt in der Regel zu einer deutlich höheren Organspenderquote als in Ländern, in denen man aktiv seinen Willen hierzu äußern muss wie beispielsweise in Deutschland. Diese Verhaltensweisen können wir uns auch in unserem Unternehmen zunutze machen.
Beispiel
Wollen Sie Ihre Besprechungen produktiver gestalten? Dauern sie zu lange und sind die Ergebnisse unklar?
Verändern Sie Ihren Besprechungsraum. Nutzen Sie Stehtische – diese verkürzen Besprechungen nachweislich. Das 1-Euro-Schwein für jeden, der zu spät kommt, sowie eine Uhr, die die verbleibende Besprechungszeit anzeigt, helfen beim Zeitmanagement. Auf dem Monitor an der Wand können alle sehen, welche Maßnahmen Sie aus den besprochenen Punkten abgeleitet haben. Bei Arbeiten, die viel Konzentration benötigen, können Sichtschutzwände dafür sorgen, dass vorbeigehende Kollegen nicht ablenken. Veränderungen des Arbeitsplatzes, z.B. durch einen weicheren Boden, erleichtern langes und konzentriertes Stehen.
Anwendung in fünf Schritten
Wenn Sie Nudges in Ihrem Unternehmen einführen wollen, können Sie sich der nachfolgenden Schritte bedienen.
Schritt 1: Problem erfassen
Am einfachsten ist es für uns Qualitäter sicherlich, den Optimierungsbedarf zu erkennen. Hierzu können wir z.B.
unsere Kennzahlen oder die internen und externen Abweichungen anschauen. Wo genau gibt es
Qualitätsprobleme? Was genau muss verbessert werden? Diese Fragen müssen wir zunächst beantworten.
Schritt 2: verhaltensbedingte Ursachen erkennen
Nun gehen wir in die Ursachenanalyse. Was sind die Gründe für unsere Qualitätsabweichungen oder Probleme im
Prozess? Und hier interessieren uns im Rahmen von Nudges tatsächlich nur die verhaltensbasierten Fehler der
Mitarbeiter. Das sind typischerweise die Fehler, bei denen Ihnen Führungskräfte bisher gesagt habe:n „Fehler sind
menschlich.“ oder: „Es geht halt immer mal was schief – da kann man nichts machen.“
Schritt 3: genaue Analyse
Und jetzt wird es schon anspruchsvoller. Die Fehler, bei denen „menschliches Versagen“ als Ursache definiert
wurde, müssen nun genauer betrachtet werden. Ziel ist zu verstehen, warum unsere Kolleginnen und Kollegen
diesen Fehler machen.
Schritt 4: Abhilfemaßnahmen ableiten
Gibt es für die erkannten Gründe geeignete Maßnahmen, wie wir das Umfeld besser gestalten können? Wie viel
müssen wir für diese Veränderungen investieren? Lohnt sich diese Investition?
Schritt 5: Bewertung
Als Qualitäter sind wir es gewohnt, die Wirksamkeit von Maßnahmen zu bewerten. Am besten ist es, wenn Sie einen Vorher-nachher-Vergleich aufbauen. Welche Ergebnisse lieferte der Prozess, die Aktion, die Besprechung vor der Veränderung und wie ist es danach?
Was Sie beim Nudging beachten sollten
Für den Einsatz von Nudges müssen Sie mutig sein, denn hier heißt es auch einmal, neue Wege zu gehen. Auf
folgende Stolpersteine sollten Sie vorbereitet sein:
- Visuelle Nudges wirken nicht so nachhaltig:
Seit einigen Jahren gibt es auf Zigarettenpackungen extrem abschreckende Bilder von typischen Rauchererkrankungen. Einige Raucher wurden durch diese Bilder zu Nichtrauchern. Heute jedoch finden diese Bilder kaum noch Aufmerksamkeit bei den betroffenen Personen. Geben Sie daher nachhaltigeren Nudges den Vorrang. - Die Einbindung von Mitarbeitern ist tabu:
In vielen Unternehmen herrscht inzwischen eine Kultur der Einbeziehung der Mitarbeiter. Genau das funktioniert beim Nudging aber gar nicht. Wissen Mitarbeiter, was Sie mit den Veränderungen des Umfelds bezwecken, wird die Wirkung dadurch negativ beeinträchtigt und kann sich sogar ins Gegenteil verkehren. Arbeiten Sie daher in einem kleinen Team und überlegen Sie sich genau, wie Sie Ihre Änderungen nach außen kommunizieren. - Mitarbeiter werfen Ihnen Manipulation vor:
Im Gegensatz zu Poka Yoke haben die Mitarbeiter bei Nudges nach wie vor alle Möglichkeiten. Einige werden durch Nudges lediglich attraktiver als andere. Daher ist der Manipulationsvorwurf aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt.
Wenn Sie Spaß an dieser Methode gewonnen haben, nutzen Sie die umfangreich erhältliche Fachliteratur, um sich ggf. noch mehr Anregungen zu holen.
Literatur
Thaler, R.; Sunstein, C.: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt. 17. Auflage, Ullstein 2017.