Die Norm der Zukunft wird digital – was bedeutet das?
Wer als Konstrukteur oder CE-Verantwortlicher im Maschinenbau Normen benötigt, muss sich diese beschaffen und hat sie dann i.d.R. als Datei auf seinem Rechner oder in Papierform vorliegen. Er muss die erforderlichen Normen auswählen und die für ihn relevanten Informationen erfassen. Doch diese klassische Vorgehensweise eine technische Norm zu nutzen könnte bald überholt sein.
Die Digitalisierung erfasst auch das Normungswesen
Jeder Konstrukteur und Entwickler technischer Systeme muss sich mit einer mehr oder weniger großen Zahl an nationalen und internationalen Normen auseinandersetzen. Diese Normen liegen stets in schriftlicher Form vor. Eine DIN-, EN- oder ISO-Norm ist traditionell und aus guten Gründen dokumentbasiert.
In der Praxis wird eine solche Norm entweder in Papierform oder als Datei, meist im PDF-Format, in einem Computer oder Netzwerk genutzt. Damit liegt die Norm längst in einer digitalen Version vor. Digitale Normung geht jedoch noch einen Schritt weiter: denn digital soll nicht nur das Produkt Norm sein, sondern digitalisiert – und in weiteren Stufen auch automatisiert und intelligent gesteuert – sollen auch alle mit einer Norm verbundenen Prozesse entlang der Wertschöpfungskette werden.
Whitepaper beschreibt Szenarien zur Digitalisierung der Normung
Das recht spannend zu lesende Dokument mit dem Titel „Szenarien zur Digitalisierung der Normung und Normen“ geht auf die Netzwerkgruppe IDiS (Initiative Digitale Standards) zurück. Das ist eine Expertenrunde, in der DIN und DKE gemeinsam an Lösungen für die digitale Transformation arbeiten. Die Autoren beschreiben die möglichen bzw. zu erwartenden Stufen auf dem Weg zu einer digitalen Normierung. Mit diesem Dokument sind die Autoren auch auf internationaler Ebene die Ersten, die die Veränderungen auf dem Weg zu einer digitalen Normung detailliert herausarbeiten und auch die Rolle künstlicher Intelligenz in diesem Transformationsprozess beleuchten.
Zwischen Norm und Maschine steht (noch) der Mensch
Auch wo Produktionsprozesse immer mehr automatisiert ablaufen, bedarf die Schnittstelle zwischen Norm und Maschine stets des Einwirkens eines Menschen. Menschen sind es, die eine Norm erstellen, überprüfen, diskutieren und sie schlussendlich als neuen Bestandteil des immer komplexer werdenden Normenkatalogs veröffentlichen. Auf der Anwenderseite ist es erneut ein Mensch, der im Rahmen des Verfahrens zur Konformitätsbewertung die für die jeweilige Maschine relevanten Normen heraussuchen und überprüfen muss. Auch wenn Softwarelösungen dabei unterstützen, hat das Einbinden der Norm in den Prozess einer Maschinenentwicklung immer noch einen händischen Charakter.
Mit genau diesen Schnittstellen befasst sich das Whitepaper zur digitalen Norm. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Inhalte von Normen maschinell erstellt, ausgelesen, verarbeitet und optimiert werden könnten. Damit sollen Normen mehr und mehr automatisch in die Regelkreise der industriellen Produktion einfließen.
Vier Schritte auf dem Weg zur Digitalisierung von Normen
Das Whitepaper sagt bei der Entwicklung zu digitalen Normen vier Level oder Ausprägungsstufen voraus:
- Level 1: digitales Normendokument: Die Norm lässt sich digital darstellen und per Computer abrufen, z.B. als PDF-Datei.
- Level 2: maschinenlesbare Norm: Die Norm ist durch Trennung von Format und Inhalt so strukturiert, dass sie maschinell erfasst und ausgelesen werden kann, z.B. im Hinblick auf Begriffsdefinitionen, technische Maßangaben, Grafiken usw.
- Level 3: maschinenlesbare und ausführbare Norminhalte: Alle wesentlichen Informationseinheiten der Norm lassen sich vollständig maschinell identifizieren, in ihrem Kontext zueinander erfassen und zur Weiterverarbeitung oder Teilausführung bereitstellen.
- Level 4: maschineninterpretierbare Norm: Die Norminhalte werden von maschinellen Systemen in einer Weise „verstanden“, dass sie direkt angewendet oder ausgeführt werden können. Durch Verknüpfung mit weiteren Daten und Informationen werden komplexe Handlungen und Entscheidungsprozesse automatisierbar, in welche die normativen Vorgaben eingeflossen sind.
Diese Stufeneinteilung beruht auf dem Klassifikations- und Utility-Modell einer Arbeitsgruppe des IEC, welche den Digitalisierungsgrad einer Norm auch als Reifegrad oder Autonomiestufe bezeichnet. Das Whitepaper erweitert dieses IEC-Modell um ein weiteres Szenario oberhalb von Level 4:
- Level 5: maschinensteuerbare Norminhalte: Das Erstellen, Aufbereiten, Umsetzen und Anpassen digitaler Normen erfolgt durch maschinelle Systeme und wird durch eine „allgemeine künstliche Intelligenz“ („Artificial General Intelligence“, AGI) gesteuert. Die Maschine kann Norminhalte selbstständig anpassen, optimieren, verabschieden und prüfen, ggf. auch ganz ohne menschliches Eingreifen.
Eine Norm in Papierform stünde gemäß dieser Einteilung auf dem Level 0, während der heutige Stand im Normungsgeschehen weitgehend Level 1 entspricht. Der Schwerpunkt des Whitepapers liegt auf den Beschreibungen der Szenarien für Level 2 bis 5, und zwar hauptsächlich aus Sicht der Wertschöpfungsprozessphasen der Normungsorganisationen (Creation, Management, Delivery und Usage). In den möglichen Zukunftsbildern geht es um die unterschiedlichen, für den Workflow relevanten Aspekte wie Dokumentformate, Datenformate, Metadaten-Architekturen, ein plattformübergreifendes Terminologie-Management oder das semantische Indexieren von Normentexten.
Was bedeutet die Digitalisierung von Normen für den Anwender?
Beim konkreten Nutzen einer digitalen Normierung für die Arbeitspraxis des Normanwenders bleibt das Whitepaper eher zurückhaltend, doch einige Vorteile lassen sich durchaus erahnen:
- Eine maschinenlesbare und -interpretierbare Norm könnte etwa leichter mit Softwareprogrammen interagieren.
- Auch intelligente Assistenzsysteme, die den Anwender etwa gezielt beim Arbeiten mit mathematischen Formeln unterstützen, wären denkbar.
- Bei spezifischen und komplexen Prozessen wie etwa Verfahren zur Produktprüfung könnte die Digitalisierung dazu führen, dass die Normvorgaben automatisiert identifiziert, ausgelesen und für den Anwender zusammengestellt werden.
KI schreibt Programmcodes, Drehbücher, Gedichte … und demnächst auch Normen
KI schreibt inzwischen Lyrik und Prosa, Algorithmen aktualisieren Wikipedia-Artikel und werten Pressemeldungen oder Fachliteratur aus. Daher sollte eine KI mit Normtexten, die naturgemäß eher technische Aspekte beschreiben bestens zurechtkommen. Wie sehr das im Normungsgeschehen gelingt, wird auch davon abhängen, wie es in den nächsten Jahren um die Akzeptanz von KI bestellt sein wird. Die nächsten Jahre werden zeigen, inwiefern die Szenarien dieses Whitepapers Realität werden. Eines ist jedoch schon heute sicher: Die Entwicklung im Normenwesen wird spannend bleiben.