Anhang-IV-Maschinen im Kontext von Konformitätsbewertungsverfahren und harmonisierten Normen
Was denken Sie? Sollte man an mechanische Fotoapparate, Armbanduhren und Kugelschreiber ebenso hohe Sicherheitsanforderungen stellen wie an Kreissägen oder Pressen mit Handbeschickung? – „Aber nicht doch!“, werden Sie sagen, „Das kann man doch gar nicht vergleichen!“ Und Sie haben recht.
Namenlos und echt besonders: „Anhang-IV-Maschinen“
Ja, die genannten Produkte sind allesamt Maschinen im Sinne der Maschinenrichtlinie. Eine Bagatelluntergrenze hat der Gesetzgeber absichtlich nicht eingeführt. Aber zwischen einem Kugelschreiber und einer Presse liegen natürlich Welten. Der Knackpunkt ist das Gefährdungspotenzial. Und deshalb macht der europäische Gesetzgeber einen Unterschied zwischen Maschinen und Maschinen mit besonders hohem Risikopotenzial.
Juristisch ist sie namenlos geblieben, diese Gruppe der Maschinen mit besonders hohem Risikopotenzial. Die Maschinenrichtlinie listet sie auf unter der wenig griffigen Überschrift „Kategorien von Maschinen, für die eines der Verfahren nach Artikel 12 Absätze 3 und 4 anzuwenden ist“.
Aber weil sich der Mensch schwer damit tut, von etwas zu sprechen, das keinen Namen hat, hat sich der Begriff „Anhang-IV-Maschinen“ eingebürgert, den auch der Leitfaden zur Maschinenrichtlinie gebraucht. Die Maschinenrichtlinie selbst kennt den Begriff „Anhang-IV-Maschinen“ nicht.
Worin liegt der Unterschied?
Die Sicherheitsanforderungen an Maschinen mit besonders hohem Risikopotenzial und an Kategorien von Maschinen, die kritische Schutzfunktionen erfüllen, sind höher als an andere Maschinen.
Dieser Unterschied drückt sich in den anzuwendenden Konformitätsbewertungsverfahren aus:
- Der Hersteller von Maschinen ohne höheres Risikopotenzial darf die Konformität seiner Maschine generell ohne Zuhilfenahme Dritter in eigener Verantwortung erklären.
- Der Hersteller einer Maschine mit besonders hohem Risikopotenzial muss ein verschärftes Konformitätsbewertungsverfahren durchführen. Der Spielraum für die Erklärung der Konformität ohne Zuhilfenahme Dritter ist sehr eng gefasst.
Das sind die „Anhang-IV-Maschinen“
Im Anhang IV der Maschinenrichtlinie sind Kategorien von Maschinen aufgeführt, für die der Hersteller ein verschärftes Konformitätsbewertungsverfahren durchführen muss. Die Liste der in Anhang IV aufgeführten Maschinen ist erschöpfend. Es handelt sich nicht um Beispiele. Nur Maschinen, die im Anhang IV aufgeführt sind, unterliegen den verschärften Konformitätsbewertungsverfahren nach Maschinenrichtlinie Artikel 12 Absatz 3 und 4. Maschinen, die nicht aufgeführt sind, unterliegen nur dem Konformitätsbewertungsverfahren der internen Fertigungskontrolle. Dies gilt auch dann, wenn eine nicht aufgeführte Maschine sehr ähnlich aufgebaut ist oder sehr ähnliche Gefährdungen aufweist wie eine aufgeführte Maschine. Der Leitfaden zur Maschinenrichtlinie erläutert in § 388 „Kategorien von Maschinen, auf die eines der Konformitätsbewertungsverfahren unter Beteiligung einer notifizierten Stelle Anwendung finden kann“ ausführlich jede der 23 Kategorien des Anhangs IV der Maschinenrichtlinie.
Konformitätsbewertungsverfahren: die Schlüssel zur CE-Konformität
Jede europäische Harmonisierungsrechtsvorschrift zitiert sie – auch die Maschinenrichtlinie: die anzuwendenden Konformitätsbewertungsverfahren. Weniger bekannt ist, welche Konformitätsbewertungsverfahren es eigentlich gibt und wo diese verbindlich festgelegt sind. Hier die Quelle: Beschluss Nr. 768/2008/EG enthält alle aktuell gültigen Konformitätsbewertungsverfahren, aus deren Spektrum sich die Verfasser der europäischen Harmonisierungsrechtsvorschriften bedienen müssen.
Die Konformitätsbewertungsverfahren für Anhang-IV-Maschinen
Das Konformitätsbewertungsverfahren für eine Maschine richtet sich u.a. danach, ob diese Maschine zu einer der in Anhang IV aufgeführten Kategorien gehört. Diese Maschinenkategorien zeichnen sich durch ein erhöhtes Risiko oder die Erfüllung einer kritischen Schutzfunktion aus. Maschinenrichtlinie Artikel 12 stellt dem Hersteller einer Anhang-IV-Maschine drei Konformitätsbewertungsverfahren zur Auswahl. Die Wahlmöglichkeit ist jedoch nicht frei, sondern an bestimmte Bedingungen geknüpft und abhängig davon, ob
- die Maschine nach harmonisierten Normen hergestellt wird und diese Normen ALLE relevanten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen berücksichtigen oder
- die Maschine NICHT nach harmonisierten Normen hergestellt wird oder diese Normen NICHT alle relevanten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen berücksichtigen.
Was sind „harmonisierte“ Normen?
Europäische Harmonisierungsrechtsvorschriften wie die Maschinenrichtlinie legen nur allgemeine grundlegende Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen fest. Technische Konkretisierungen, mit deren Hilfe der Hersteller diese grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen nach dem geforderten Stand der Technik erfüllen könnte, enthalten die europäischen Harmonisierungsrechtsvorschriften nicht.
Die Lösung: Die Europäische Kommission beauftragt europäische Normenorganisationen damit, die passenden technischen Konkretisierungen zu erarbeiten, die eigens auf die Erfüllung der Anforderungen der jeweiligen europäischen Harmonisierungsrechtsvorschriften zugeschnitten sind. Dies gilt auch für alle Maschinen im Anwendungsbereich der Maschinenrichtlinie und für Anhang-IV-Maschinen.
Die Europäische Kommission stellt diese vereinheitlichten technischen Konkretisierungen dann in Form von harmonisierten Normen zur Verfügung und veröffentlicht die Fundstellen (Bezugsquellen) dieser Normen im Amtsblatt der Europäischen Union.
Vollständig angewendete harmonisierte Normen
- erleichtern das Konformitätsbewertungsverfahren für den Hersteller,
- erleichtern der Marktüberwachung die Überprüfung der CE-Konformität und
- fördern EU-einheitliche technische Lösungen.
Harmonisierte Normen und Risikobeurteilung
Die Anwendung harmonisierter Normen erleichtert die Risikobeurteilung. Sie entbindet einen Hersteller jedoch nicht völlig von der Pflicht, eine Risikobeurteilung der Maschine durchzuführen. Zum einen decken harmonisierte Normen zwar die wichtigsten Risiken eines bestimmten Maschinentyps unter den angenommenen Einsatzbedingungen ab – aber nicht zwingend ALLE Risiken eines Maschinentyps.
Zum anderen muss der Hersteller eine Risikoanalyse gemäß EN ISO 12100 vornehmen, um alle grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen der Maschinenrichtlinie zu identifizieren und einzuschätzen, die auf seine Maschine zutreffen. In einem anschließenden Übereinstimmungsverfahren muss der Hersteller dann die ermittelten Risikobereiche mit den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen abgleichen, welche die harmonisierten Normen abdecken. Für alle verbleibenden, nicht von harmonisierten Normen abgedeckten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen muss der Hersteller dann eine vollumfängliche Risikobeurteilung gemäß EN ISO 12100 durchführen und eigene Lösungen zur Risikominderung finden.