Gewohnt redegewandt stellte Gysi gleich zu Anfang klar, dass die „längsten Koalitionsverhandlungen der Bundesrepublik“ in seinen Augen kein gutes Ergebnis gebracht hätten und bezeichnete die neue Regierung als „Koalition des Stillstands“. Es stünden nun „vier Jahre Selbstzufriedenheit der neuen Regierung bevor“. Wenn sich die Konjunktur nicht wie von den Koalitionären erwartet entwickle, bliebe von ihrem Vertrag nichts mehr übrig.
Deutschland größtes Niedriglohnland Europas
„Deutschland ist heute der größte Niedriglohnsektor Europas“, sagte Gysi. Der deutsche Weg, Arbeitslosigkeit abzubauen, heiße Leiharbeit, Befristung, Teilzeit, Aufstockung und Ähnliches. Dies habe zu einer dramatischen Senkung des Lohnniveaus geführt. 1,6 Millionen Menschen verdienten weniger als 5 Euro in der Stunde. Viele müssten ihr niedriges Einkommen mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. „Und geringe Löhne führen unweigerlich zu Altersarmut“.
Flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn
„Der Gesetzgeber ist für die Untergrenze des Lohns zuständig“, so Gysi. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn sei daher ein Muss. Mit den von der neuen Koalition geplanten Maßnahmen könne man Niedriglöhne jedoch nicht bekämpfen. Die Koalition plane den Mindestlohn frühestens 2015 und komplett 2017. Die vorgesehenen Ausnahmen für Tarifverträge mit niedrigen Mindestlöhnen bedeuteten, dass es in vielen Branchen und vor allem im Osten eben gerade keinen Mindestlohn von 8,50 Euro geben werde. Und auch die 8,50 Euro lägen weit unter der vom Statistischen Bundesamt definierten Niedriglohnschwelle. Das reiche nicht einmal für eine Rente in Höhe der Grundsicherung. Als realitätsfern bezeichnete Gysi die Tatsache, dass es erst 2018 eine erste Anpassung geben soll. Danach würde der Mindestlohn 2017 nur noch 8 Euro wert sein.
Leiharbeit
Bei der Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nähere sich Deutschland jetzt der Millionengrenze. Für Gysi ist klar: „Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklaverei“. Leiharbeit binde nicht, führe zur Entsolidarisierung der Arbeitnehmer untereinander, zerstöre die Betriebskultur. Vorstellen könne er sich die Leiharbeit nach französischem Modell. Dort haben Leiharbeitnehmer Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes eines vergleichbaren Kollegen der Stammbelegschaft. Eine teure Lösung für die Arbeitgeber, die dazu führe, dass sie nur in Ausnahmefällen genutzt würde. Gysi fordert, Leiharbeit auf drei Monate zu befristen und Leiharbeitnehmern mit einem aktiven Wahlrecht für den Betriebsrat auszustatten.
Werkverträge
Auch Werkvertragsbeschäftigte zählten zur Randbelegschaft in Unternehmen. Leider gäbe es, so Gysi, mit der neuen Regierung bei Werkverträgen nichts Neues. Es komme lediglich eine Informationspflicht gegenüber dem Betriebsrat. Als sozialdemokratisch sei dies nicht zu bezeichnen.
Rentenniveau
Der Koalitionsvertrag enthalte keinerlei Maßnahmen gegen das sinkende Rentenniveau und man halte am Renteneintrittsalter ab 67 fest. Gysi beklagte die zunehmende Altersarmut: Zwar sei die Mütterrente festgeschrieben und Beschäftigte mit 45 Beitragsjahren könnten mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen, aber ausgerechnet mit der (ohnehin unzureichenden) Solidarrente sei erst 2017 zu rechnen. Gysi plädierte für die Abschaffung der Rente mit 67 und für eine grundlegende Reform des Rentensystems.
Zum Schluss ermunterte Gysi die im Saal anwesenden Betriebsräte: „Sie haben noch viel zu tun!“ Auch er sei erst 66 und zähle darauf, in vier Jahren, nach den Neuwahlen, noch tatkräftig anzupacken.
Blick in die Zukunft : Podiumsdiskussion
Am ersten Tag des dreitägigen Kongress diskutierten die Mitbegründerin und frühere Bundesvorsitzende der Grünen, Jutta Ditfurth, der beliebte Ex-Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung der CDU Dr. Norbert Blüm sowie der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld über die Situation am Arbeitsmarkt.
Blüm stellte die Erfolge für Arbeitnehmer der letzten Jahrzehnte heraus, wie beispielsweise die Sozialversicherung und der 8-Stunden-Tag, beklagte jedoch die neuen gesundheitlichen Gefahren wie Depressionen und Burn-out. Ursache sei eine Welt ohne Anerkennung und Konzentration. „Wir leiden unter der Verachtung der Arbeit und der Arroganz des Geldes. Wir befinden uns in einer Kulturkrise“. Es sei heute leichter Geld mit Geld zu verdienen als mit Arbeit. Um dies zu bekämpfen, bräuchten wir ein politisch vereintes Europa mit einer europäischen Sozial- und Wirtschaftsordnung. Er wünsche sich eine Gesellschaft des „wir“, sonst falle die Arbeitsgesellschaft auseinander.
Hier sah Ditfurth einen Widerspruch zwischen dem Gesagten und dem, was Blüms „Regierung mitverursacht“ habe und traf den Nerv der zuhörenden Betriebsräte. Eine langjährige Betriebsrätin berichtete über die Entwicklung der Arbeitszeiten in ihrem Betrieb „ von 42 Wochenstunden in der Lehrzeit auf 37,5 und nun wieder zurück auf 42 Stunden“ und dies bei weniger Geld und Sicherheit. „Was ist denn daran besser?“
„Deutschland ist heute Billiglohnland“, bestätigte Ditfurth. „Wir reden heute über einen Mindestlohn, über den man vor 20 Jahren noch gespottet hätte“.
Analytisch ging Weidenfeld an die Darstellung der heutigen Situation heran und nannte die Komponenten, die die Gesellschaft heute prägen und die Politik fordern. Dazu gehören die steigende Lebenserwartung, ungleiche Lebensverhältnisse, der Magnetismus der Metropolen, die mit den neuen Technologien verbundene Entgrenzung sowie der erfolgte Machttransfer auf die EU. Die Herausforderung, die Weidenfeld heute für die deutsche Politik sieht, bestehe in Vertrauensschaffung, denn Deutschland sei eine Misstrauensgesellschaft.
Die Münchner Betriebsrats-Tage 2013 fanden bis zum 5. Dezember statt. Im Fokus der Vorträge der Experten standen „Gesunde und zufrieden Kollegen von der Ausbildung bis zur Rente“.
Die nächsten Betriebsrats-Tage in München sind vom 1. bis 4. Dezember 2014 geplant.
Pressekontakt WEKA MEDIA
WEKA MEDIA GmbH & Co. KG
Pressestelle
Isabelle Ruhrmann
Römerstraße 4, 86438 Kissing,
Fon 08233.23-7187
isabelle.ruhrmann@weka.de
www.weka.de/presse