29.10.2021

Verwilderter Fußgängerweg – Verweis auf andere gut ausgebaute Gehwege ausreichend?

Anwohner beschweren sich über den Zustand eines hinter ihren Häusern angelegten Fußweges. Die Ordnungsbehörde verweist die Passanten auf einen rund 50 m entfernt parallel verlaufenden Gehweg an einer gut ausgebauten Anliegerstraße. Kann die Beschwerde mit diesem Argument zutreffend beantwortet werden?

verwilderter Fußgängerweg

Verwilderter Fußgängerweg …

In einer Gemeinde in Nordhessen beschweren sich Anwohner über den Zustand eines mit dem Zeichen 239 (Sonderweg für Fußgänger) ausgeschilderten Weges.

Der Weg trennt die bebauten Grundstücke von dahinter liegenden landwirtschaftlichen Flächen. Er wurde angelegt, um den Anwohnern einen Zugang zum rückwärtigen Teil ihrer Grundstücke zu ermöglichen, wurde aber ausgeschildert und wird daher von der Allgemeinheit als Spazierweg, besonders zum „Gassi gehen“, genutzt.

… für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen schwer passierbar

Menschen mit Behinderung, so die Beschwerden, können den Weg wegen zahlreicher Stolperfallen nur unter Gefahr nutzen. Für Menschen, die auf Rollstühle angewiesen sind, oder Familien mit Kinderwagen sei der Weg unbenutzbar.

In der Tat entspricht der als „Sonderweg für Fußgänger“ ausgeschilderte Weg eher einem Trampelpfad.

Was sagt die Gemeinde?

Die Gemeinde beantwortet die Beschwerden mit dem Argument, das Zeichen 239 stehe nicht dafür, dass der Weg von allen gleichermaßen genutzt werden kann oder dass er barrierefrei ist. Im Ort gebe es viele gut ausgebaute Gehwege, auf denen auch Menschen mit Gehbehinderungen oder Familien mit Kinderwagen gut spazieren gehen können. Zudem gibt es in 50 m Entfernung eine parallel verlaufende Anliegerstraße mit sehr gut ausgebautem Fußgängerweg.

Wie ist der Stand der Technik zur Qualität von Gehwegen?

Die von der Forschungsgesellschaft Straßenverkehr als Stand der Technik herausgegebenen Vorgaben der „Empfehlungen für Fußgängeranlagen” (EFA 2002) haben das Ziel, den Anspruch von Fußgängern an ihren Bewegungsraum auf eine gleichberechtigte Ebene mit anderen Verkehrsarten zu heben.

  • Fußgängeranlagen sind insbesondere barrierefrei zu gestalten.
    Die Regelbreite von 2,50 m setzt sich aus 1,80 m Verkehrsraum für zwei zu Fuß Gehende, 0,50 m Sicherheitsraum zur Fahrbahn und 0,20 m Sicherheitsraum zur angrenzenden Bebauung zusammen.
    Zudem ist eine ausreichende Ausleuchtung des Straßenraumes insbesondere für Menschen mit Sehbehinderung zum Erkennen von Hindernissen und Informationen und zum Schutz erforderlich.
  • Gehwege sollten zumindest in der Gehbahnmitte einen glatten Belag aufweisen und stets in einwandfreiem Zustand gehalten werden.

Der strittige Fußgängerweg wird keiner dieser Empfehlungen nur annähernd gerecht.

verwilderter Fußgängerweg
Stolperfalle Kanaldeckel

Sind die Vorgaben der EFA 2002 bindend?

Die Vorgaben der EFA 2002 bzw. der „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen“ (RASt 06) sind aktuelle und spezifische wissenschaftliche Erkenntnisquellen und von den Trägern der Straßenbaulast zu beachten. Sie geben den Stand der Technik wieder.

Hinzu kommt, dass die VwV-StVO in Rn. 13 hinsichtlich der Gestaltung von Radverkehrsanlagen auf die ERA 2010 und diese hinsichtlich der Frage, ob ausreichende Breiten im Sinne von Rn. 9 der VwV-StVO gegeben sind, wiederum auf die Vorgaben der EFA 2002 bzw. der der RASt 06 verweist (Nr. 2.3.6 = S. 21 der ERA 2010).

Die Vorgaben der EFA 2002 sind von den Betroffenen aber nicht einklagbar.

BGH-Urteil setzt rechtliche Standards

Mit Urteil vom 05.07.2012 hat der BGH (Az. III ZR 240/11) entschieden, dass die Träger der Straßenbaulast, in dem Fall die Gemeinde, wegen der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für einen seit Jahren in einem desolaten Zustand befindlichen Gehweg im Rahmen der Amtshaftung Schadensersatz leisten müssen.

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Ein Passant war mit einem Fuß in einem etwa 2 bis 2,5 cm tiefen Loch hängengeblieben, fiel zu Boden und erlitt dabei schwere Verletzungen. Kernpunkte der Gerichtsentscheidung sind:

  • Die Gemeinde kann sich nicht darauf berufen, ihre jahrelange Untätigkeit stelle deshalb keine Pflichtverletzung dar, weil die Gefahrenlage so gravierend sei, dass diese von einem durchschnittlich sorgfältigen Fußgänger bereits bei flüchtigem Hinsehen ohne weiteres bemerkt werden kann.
  • Sie kann sich auch nicht darauf berufen, dass Betroffene von der Benutzung des Fußweges gänzlich absehen können. Die Gemeinde hat den Verkehr eröffnet, den bekannten Zustand aber nicht zum Anlass genommen, den Weg zu sperren, so dass sie im Schadensfall nicht argumentieren kann, der Weg hätte nicht benutzt werden dürfen.
  • Außerdem ist es für die Verkehrsteilnehmern nicht zumutbar, die Gefahrenstelle (großräumig) zu umgehen.

Ergebnis

Die Verkehrssicherung der Gehwege gehört zu den Amtspflichten der Straßenbaulastträger.

Der Straßenbaulastträger muss dafür sorgen, dass sich Straßen (also auch Gehwege) in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand befinden, der eine möglichst gefahrlose Benutzung zulässt. Dies ist durch zahlreiche Urteile belegt, z.B.

Das OLG Saarbrücken verlangt mit Urteil vom 18.05.2017, Az. 4 U 146/16, für öffentliche Straßen ein Kontrollintervall von nur einem Monat.

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Zwar konnte sich die Gemeinde vor der Öffentlichkeit noch herausreden, vor Gericht verfangen ihre Argumente jedoch nicht.

Im Schadens- und Streitfall kann es leicht um 10.000 Euro und mehr gehen.

Der BGH hatte dem verletzten Passanten lediglich eine Mitschuld von 10% zugesprochen – die restlichen 90% trägt somit die Gemeinde.

Wir empfehlen daher, den Zustand der Fußgängerwege nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, die Wege regelmäßig zu kontrollieren, die Ergebnisse zu dokumentieren sowie Schadstellen zeitnah zu beseitigen.

Autor*in: Uwe Schmidt (Uwe Schmidt unterrichtete Ordnungsrecht, Verwaltungsrecht und Informationstechnik.)