Verkehrssicherungspflicht für Radfahrer bei Straßenbauarbeiten
Eine Radfahrerin fuhr in eine ungesicherte Baustelle, verletzte sich und klagte auf Schadensersatz sowie Schmerzensgeld (OLG Karlsruhe, Urteil vom 05.10.2021, Az. 9 U 59/19).
Sturz im Bereich einer Baustelle
Eine Radfahrerin befuhr eine Straße mit Gefälle. An einer Kreuzung wurden zu dieser Zeit Straßenbauarbeiten durchgeführt. Beim Abbiegen nach links musste die Radfahrerin den Baustellenbereich queren. Weil die Asphaltdecke nicht mehr vorhanden war, rutschte das Hinterrad des Fahrrads nach rechts weg. Die Radfahrerin stürzte und verletzte sich an Ellenbogen und Handgelenk.
Sie klagte auf Ersatz der Behandlungskosten und Schmerzensgeld.
Wurde die Verkehrssicherungspflicht verletzt?
Das Gericht prüfte:
Musste ausgeschlossen werden, dass Radfahrer über die nur provisorisch mit lockerem Material gefüllte Fahrbahn fuhren?
Zum Beantworten dieser Frage, beauftragte das OLG einen Sachverständigen. Er führte aus, die Arbeiten an der Unfallstelle hätten in einem Zug durchgeführt werden können. Auf jeden Fall hätte der Baustellenbereich in diesem vorläufigen Zustand für den Straßenverkehr, insbesondere für Radfahrer, bis zur Beendigung der Arbeiten, also dem Schließen des Baustellenbereichs mit einer neuen Asphaltdecke, gesperrt bleiben müssen. Die Fahrbahn im Kreuzungsbereich durfte erst danach wieder vollständig zum Straßenverkehr freigegeben werden.
Hätte vor der Baustelle gewarnt werden müssen?
Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung enthielt die Nebenbestimmung, mit dem Verkehrszeichen 112 StVO (unebene Fahrbahn) vor der Baustelle zu warnen. Gemäß § 40 Abs. 5 StVO hätte das Zeichen mit einem schwarzen Pfeil auf einem Zusatzzeichen verbunden werden müssen, um darauf hinzuweisen, dass die Warnung für Verkehrsteilnehmer gelten sollte, die aus der Fahrtrichtung der Radfahrerin abbiegen wollten. Eine solche Warnung war nicht vorhanden. Zudem hätte die straßenverkehrsrechtliche Anordnung die Nebenbestimmung enthalten können, mit dem amtlichen Zusatzzeichen 1012-32 „Radfahrer absteigen“ zu warnen.
Zwischenergebnis
Weil die Radfahrerin im Bereich der gefährlichen Baustelle mit dem Fahrrad gestürzt war, folgt daraus im Wege des Anscheinsbeweises, dass die Fahrbahnbeschaffenheit ursächlich für ihren Sturz und für ihre daraus resultierenden Verletzungen war, entschied das OLG. Das Verschulden aufgrund der vorgenannten Versäumnisse ist als erheblich zu bewerten, so das Gericht weiter.
Trifft die Radfahrerin ein Mitverschulden?
Auf einer normalen asphaltierten Straße in einem Wohngebiet rechnen Verkehrsteilnehmer normalerweise nicht damit, dass der Fahrbahnbelag ohne einen Warnhinweis plötzlich fehlt und dass die Fahrbahn nur mit lockerem Material bedeckt ist, welches einem Radfahrer keinen seitlichen Halt gewährt. Es bestand für die Radfahrerin – anders als auf einem unebenen Wald- oder Wiesenweg – kein Anlass, dem Boden, den sie befuhr, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Zwischenergebnis
Die Haftung wird nicht durch ein Mitverschulden der Radfahrerin nach § 254 Abs. 1 BGB gemindert.
Ergebnis
Wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht wurde der Klage der Radfahrerin auf Ersatz der Behandlungskosten (rund 2.500 Euro) und Schmerzensgeld (8.500 Euro) stattgegeben.
Hinweis
Wir empfehlen dringend zu prüfen, ob nach dem Einrichten einer Baustelle den Vorgaben der verkehrsrechtlichen Anordnung Folge geleistet wurde. In diesem Fall hätte eine zeitnahe Prüfung der Baustelle den Sturz der Radfahrerin vermieden.