16.09.2016

Unterbringung von Flüchtlingen: Nachbar zieht vor Gericht

Schön ist es, von kriegerischen Handlungen bedrohten Menschen zu helfen und sie in menschenwürdigen Verhältnissen unterzubringen. Weniger schön fand dies jedoch ein Anwohner in der Nachbarschaft. Er klagte gegen die Unterbringung von 17 Flüchtlingen in einer Doppelhaushälfte auf dem angrenzenden Grundstück (VGH Kassel, Beschl. vom 03.03.2016, Az. 4 B 403/16).

Austausch von Flüchtlingsdatgen

Ein Nachbar klagte gegen die Unterbringung von 17 Flüchtlingen und Asylbewerbern in zwei in sich abgeschlossenen Wohnungen in einer Doppelhaushälfte auf dem angrenzenden Grundstück. Das VG folgte seinen Argumenten, die Unterbringung von Flüchtlingen sei keine Wohnnutzung. Das Bauamt rief den VGH Kassel an.

Entscheidungsgründe

  • Nach § 72 Abs. 1 Satz 2 HessBauO kann die Bauaufsichtsbehörde die Benutzung einer baulichen Anlage untersagen, die in Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften steht.
  • Eine Nutzungsuntersagung kann bereits dann ausgesprochen werden, wenn für das Bauvorhaben die erforderliche Genehmigung fehlt (formelle Illegalität). Ein Dritter (Nachbar) besitzt einen Rechtsanspruch auf ein behördliches Einschreiten allerdings nur, wenn weitere Voraussetzungen hinzukommen. Das Vorhaben muss auch gegen materielle Regelungen verstoßen.
  • Des Weiteren muss das der Bauaufsichtsbehörde obliegende Ermessen im konkreten Einzelfall auf null reduziert sein, sodass sich die Befugnis zum Einschreiten zu einer entsprechenden Verpflichtung verdichtet.
  • Der Rechtsanspruch eines Dritten auf eine Nutzungsuntersagung setzt ferner voraus, dass die beanstandete Nutzung eine Rechtsnorm betrifft, die eine nachbarschützende Funktion aufweist und damit ein Abwehrrecht vermitteln kann.
  • Schließlich muss das baurechtswidrige Vorhaben den Nachbarn auch tatsächlich in seinen geschützten Belangen mehr als nur geringfügig beeinträchtigen.

Prüfung durch das Gericht

Das Gericht prüfte, ob diese kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen für einen Anspruch auf ein baupolizeiliches Einschreiten vorliegen:

  • Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, eine Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie durch die Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet.
  • Bei der Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen in den Räumlichkeiten eines Gebäudes kommt insbesondere die Einrichtung einer Anlage für soziale Zwecke i.S.v. § 3 Abs. 3 Nr. 2, § 4 Abs. 2 Nr. Nr. 3 BauNVO in Betracht. Solche Anlagen dienen der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Sie gewährleisten regelmäßig eine Betreuung der Bewohner oder andere fürsorgliche Maßnahmen.
  • Eine Anlage für soziale Zwecke wird im Gegensatz zur Wohnung gerade durch die Beschränkung der Eigenverantwortlichkeit der Lebensführung charakterisiert. Anhand dieser Gesichtspunkte ist die Abgrenzung zwischen der Nutzung eines Gebäudes zum Wohnen und der Nutzung zu einer der verschiedenen Formen der Unterbringung von Personen vorzunehmen.

Frage der Wohnnutzung

  • Die Unterbringung der insgesamt 17 Flüchtlinge in einer Doppelhaushälfte ist als Wohnnutzung zu qualifizieren, wenn sie die Möglichkeit einer eigengestalteten Haushaltsführung der Bewohner ermöglicht.
  • Nach dem Konzept der Gemeinde, die den Wohnbedarf der ihr zugewiesenen Flüchtlinge zu decken hat, ist eine externe Versorgung der sieben Flüchtlinge in der Erdgeschosswohnung und der acht Flüchtlinge in der darüber liegenden Wohnung nicht vorgesehen. Für die zeitgleiche Einnahme von Mahlzeiten in einem gemeinsamen Speisesaal, wie es in Wohnheimen für Flüchtlinge typisch ist, fehlt es auch an den entsprechenden Räumlichkeiten.
  • Es ist unerheblich, ob und gegebenenfalls in welchem Grad die Bewohner in den beiden Wohnungen miteinander verwandt sind. Nach §§ 3, 4 BauNVO ist jede Form der Wohnnutzung zulässig, die mit der baulichen Ausgestaltung des Gebäudes in Einklang steht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Anzahl der in der Wohnung lebenden Personen sich nicht als Überbelegung darstellt.
  • Eine Wohnnutzung ist daher bei klassischen Wohnformen wie studentischen Wohngemeinschaften ebenso zu bejahen wie bei den neueren Formen von Wohngemeinschaften mit mehreren Arbeitnehmern oder mit älteren Menschen. Entsprechendes gilt auch für das Zusammenleben von einzelnen Flüchtlingen oder von Flüchtlingsfamilien in derselben Wohnung.
  • Die Wohnnutzung in der Doppelhaushälfte ist auch auf Dauer angelegt. Diesem Kriterium steht nicht entgegen, dass die Asylbewerber oder Flüchtlinge voraussichtlich nur für die Dauer ihres Anerkennungsverfahrens in den beiden Wohnungen verbleiben werden. Das Kriterium der Dauerhaftigkeit bildet keine enge Grenze, sondern ist eher flexibel zu handhaben. Dem Begriff des Wohnens unterfällt auch die Lebensführung in einer Wohnung, in der sich eine Person für einen nicht unerheblichen Zeitraum aufhalten wird, auch wenn die Dauer des Verbleibs von vornherein begrenzt ist.

Ergebnis

Weil die Unterbringung der Flüchtlinge bzw. Asylbewerber auf Dauer angelegt ist und weil eine freiwillige und eigengestaltete Lebensführung gegeben ist, liegt eine Wohnnutzung vor. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf ein baupolizeiliches Einschreiten sind aus diesem Grund nicht erfüllt.

Autor*in: Uwe Schmidt (Uwe Schmidt unterrichtete Ordnungsrecht, Verwaltungsrecht und Informationstechnik.)