Können Nachbarn eine Unterkunft für Flüchtlinge in einem reinen Wohngebiet verhindern?
Die Nachbarn eines Grundstücks, auf dem eine Unterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge betrieben werden sollte, wollten dies verhindern und klagten bis zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel (VGH Kassel, Beschl. vom 18.09.2015, Az. 3 B 1518/15)
Ein Landkreis mietete von Privat ein dreigeschossiges Wohnhaus an, in dem Asylbewerber und Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Die Absicht des Kreises bestand darin, den Flüchtlingsfamilien eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, um ihnen ein häuslich eigenständiges Leben mit Selbstversorgung zu ermöglichen. Für das Gebäude lag eine Baugenehmigung vor. Die Nachbarn sahen ihre Rechte verletzt und klagten – Willkommenskultur hin oder her – gegen die Nutzung als Unterkunft für hilfebedürftige Menschen. Nachdem das VG die Klage abgewiesen hatte, musste der VGH Kassel urteilen.
Entscheidungsgründe
- Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 HessBauO kann die Bauaufsichtsbehörde die Benutzung von baulichen Anlagen untersagen, wenn diese in Widerspruch zu öffentlichen Vorschriften genutzt werden.
- Ein Nachbar kann aber nur dann mit Erfolg einen Anspruch auf bauaufsichtsrechtliches Einschreiten geltend machen, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften, zu denen das Vorhaben im Widerspruch stehen soll, auch nachbarschützend sind und durch das danach rechtswidrige Vorhaben eine tatsächliche Beeinträchtigung der geschützten nachbarlichen Belange zu befürchten ist.
- Nachbarschutz kann sich dabei ergeben aus bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften, in beplanten Gebieten aus Grundsätzen zur Gebietserhaltung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung, aus ausdrücklich nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans,aus dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme, das in unbeplanten Gebieten unter dem Gesichtspunkt des „sich Einfügens“ i.S.v. § 34 BauGB zu beachten ist, sowie bei der Erteilung von Ausnahmen und Befreiungen, bei denen auch die nachbarlichen Interessen zu berücksichtigen sind.
- Die beanstandete Nutzung des als dreigeschossiges Wohnhaus genehmigten Gebäudes der Beigeladenen durch Asylbewerber stellt aber keine baugenehmigungspflichtige Nutzungsänderung dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die nähere Umgebung als reines Wohngebiet (§ 3 BauNVO) oder als allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) zu qualifizieren ist.
- Bei dem genehmigten Gebäude handelt es sich um ein Haus, das auch nach dem Einzug von Asylbewerbern und Flüchtlingen dem Wohnen i.S.v. § 3 Abs. 1 BauNVO und § 4 Abs. 1 BauNVO dient.
- Bei einer Unterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge, die die Merkmale des Wohnens nicht erfüllt, handelt es sich um eine soziale Einrichtung, die gem. § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO in einem allgemeinen Wohngebiet allgemein und gem. § 3 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO in einem reinen Wohngebiet als Ausnahme zulässig ist.
Ergebnis
Weil sich an der genehmigten Nutzung des Wohngebäudes durch die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen keine Änderung ergibt, wurde die Klage der Nachbarn abgewiesen.