Hat ein Schwerbehindertenausweis eine Bindungswirkung?
Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO wird durch die VwV-StVO gelenkt und, soweit der konkret zu entscheidende Sachverhalt dort erfasst ist, gebunden. Das gilt nicht für atypische Fälle (Ermessen). Hinsichtlich der gesundheitlichen Merkmale, die von der VwV-StVO für eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO gefordert werden, kommt den Feststellungen im Schwerbehindertenausweis bindende Wirkung zu. Sonstigen Stellungnahmen von Sozialbehörden, die diese außerhalb der Feststellungen in einem Schwerbehindertenausweis abgeben, kommt demgegenüber keine Bindungswirkung zu (VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2015, Az. 4 K 2673/13).
Der Kläger beantragte bei der Beklagten eine Ausnahmegenehmigung zur Bewilligung von Parkerleichterungen für besondere Gruppen von Schwerbehinderten nach der StVO.
Mit einem Bescheid, der kein Datum trägt, lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da eine Prüfung des Landratsamts – Versorgungsamt – ergeben habe, dass beim Kläger die Voraussetzungen für die beantragte Ausnahmegenehmigung (insbesondere das fehlende Merkmal „B“) nicht vorlägen und diese Ausnahmegenehmigung deshalb nicht erteilt werden könne. Nur ein GdB von 80 reiche hierfür nicht aus.
Der Widerspruch hiergegen wurde vom Regierungspräsidium verworfen.
Der Kläger erhob danach Klage. Die Behörde habe keine eigene Ermessensentscheidung getroffen, sondern nur die Ablehnung durch das Versorgungsamt aufgegriffen. Er habe die Pflegestufe 1 und könne sich nur mit fremder Hilfe und unter großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen. Daher sei die beantragte Ausnahmegenehmigung zu erteilen (weitere Begründung in der Klageschrift).
Das Gericht hob den Ablehnungsbescheid der Behörde sowie den Widerspruchsbescheid auf und verwies auf eine Neubescheidung durch die Behörde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, insbesondere rechtzeitig erhoben worden, obwohl der Widerspruchsbescheid vom 19.11.2013 nach einem Vermerk in den Widerspruchsakten am 20.11.2013 versandt wurde, die Klageschrift jedoch erst am 23.12.2013 beim Gericht eingegangen ist. Denn den Akten des Regierungspräsidiums lässt sich nicht entnehmen, dass der Widerspruchsbescheid, wie dies nach § 73 Abs. 3 Satz 1 und 2 VwGO vorgeschrieben ist, dem Kläger nach Maßgabe des Verwaltungszustellungsgesetzes (förmlich) zugestellt worden wäre. Da aber eine Zustellung ersichtlich nicht stattgefunden hat, ist die Rechtsmittelbelehrung insoweit falsch, mit der Folge, dass die Klagefrist ein Jahr betragen hat (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO). Diese Frist hat der Kläger in jedem Fall gewahrt.
Die Klage ist auch begründet. Der Ablehnungsbescheid sowie der Widerspruchsbescheid sind rechtswidrig, weshalb eine Neubescheidung durch die Behörde erfolgen muss.
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO.
Die Beklagte ist auch die nach § 46 Abs. 1 StVO zuständige Behörde.
Nach seinem klaren Wortlaut („kann“) räumt § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO den Straßenverkehrsbehörden ein Ermessen ein. Dieses Ermessen wird durch die VwV-StVO gelenkt und, soweit der konkret zu entscheidende Sachverhalt von der VwV-StVO erfasst wird, gebunden. Bei dieser VwV-StVO handelt es sich nicht um eine Rechtsnorm, sondern um innerdienstliche Richtlinien, die keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für den Bürger begründen. Das bedeutet, dass die Behörde verpflichtet ist, denjenigen schwerbehinderten Menschen Parkerleichterungen zu gewähren, die dort als Anspruchsberechtigte aufgeführt sind.
Umgekehrt, das heißt, in Fällen, die von der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO nicht erfasst sind, unterliegen die Straßenverkehrsbehörden keiner abschließenden Bindung. Da Krankheiten äußerst vielfältig und unterschiedlich auftreten können, ist es möglich, dass eine bestimmte Art der Behinderung nicht von der VwV-StVO erfasst ist. Die Behörde hat in solchen Fällen einen Ermessensspielraum. Es ist dann eine Bewertung im Einzelfall vorzunehmen. Dazu gehört die Feststellung, ob sonstige besondere Umstände vorliegen, die bei einem wertenden Vergleich mit den in der Verwaltungsvorschrift angeführten Fallgruppen eine vergleichbare Entscheidung rechtfertigen. Eine solche gesetzlich gebotene Ermessensausübung haben die Beklagte und in der Folge auch das Regierungspräsidium unterlassen.
Der Kläger erfüllt hier zwar nicht die Voraussetzungen für eine ‚Ausnahmegenehmigung nach der VwV-StVO, insbesondere fehlt das Merkmal „B“. Das heißt, dass die Straßenverkehrsbehörden insoweit weder von den positiven noch von den negativen, das heißt unterbliebenen Feststellungen solcher Merkmale durch die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen (Sozial-)Behörden abweichen dürfen.
Sonstigen Stellungnahmen dieser (Sozial-)Behörden, die diese außerhalb der Feststellungen in einem Schwerbehindertenausweis abgeben, kommt demgegenüber keine Bindungswirkung zu (Verweis auf Rechtsprechung).
Das Gericht folgt dieser in der Rechtsprechung vertretenen Ansicht, da die Straßenverkehrsbehörden nach der Ermessensvorschrift in § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO in ihrem Hoheitsbereich Ausnahmen schaffen können, wozu die Sozialbehörden keine Befugnisse haben. Die Sozialbehörden können nur nach den für sie geltenden Vorschriften entscheiden und Empfehlungen abgeben. Ob die Straßenverkehrsbehörde jedoch einen atypischen Fall oder Ausnahmefall annimmt, bleibt allein ihr überlassen; die Stellungnahmen der für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen (Sozial-)Behörden können allenfalls, ggf. auch mit einem beachtlichen Gewicht, in die Ermessenserwägungen der Straßenverkehrsbehörden einfließen. Fühlt eine Straßenverkehrsbehörde sich hingegen an eine nicht bindende Stellungnahme der Sozialbehörde rechtlich gebunden und übt sie deshalb kein eigenes Ermessen aus, wie das die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid und das Regierungspräsidium im Widerspruchsbescheid ausdrücklich getan haben, dann liegt ein (kompletter) Ermessensausfall vor, mit der Folge, dass diese Bescheide rechtswidrig und damit vom Verwaltungsgericht aufzuheben sind.
Im vorliegenden Fall hat auch durchaus Anlass für die Prüfung einer Ausnahmegenehmigung im Rahmen einer Ermessensentscheidung bestanden, weil im Fall des Klägers Hinweise auf einen atypischen Sachverhalt vorliegen, der von der VwV-StVO nicht erfasst ist. Bei Vorliegen derartiger Anhaltspunkte wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, zu prüfen, ob im Ergebnis beim Kläger tatsächlich Beeinträchtigungen mit dem Gewicht der in der VwV-StVO anerkannten Erkrankungen gegeben sind, und dann entweder zu entscheiden, ob eine Ausnahmegenehmigung (im Ermessenswege) erteilt werden kann, oder darzulegen, aus welchen Gründen das auch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 GG nicht geschehen soll.