Bestandsschutz bei elektrischen Anlagen
In vielen Unternehmen herrscht darüber Unklarheit: Müssen bestehende elektrische Anlagen an die aktuelle Normung angepasst werden? Oder gibt es Bestandsschutz bei elektrischen Anlagen, die nach alten Normen errichtet wurden? Unser Experte gibt Antwort auf heiß diskutierte Fragen.
Der Begriff „Bestandsschutz“
Bestandsschutz ist eigentlich ein Begriff aus dem Bauordnungsrecht. Hierbei wird der Umstand beschrieben, dass eine bauliche Anlage (Gebäude), die nach einer bauaufsichtlichen Genehmigung rechtmäßig errichtet wurde, nicht rechtswidrig wird, wenn im Nachhinein das öffentliche Recht (Bauordnung) verändert wurde. Gibt es den Bestandsschutz bei elektrischen Anlagen auch? Bevor wir die Frage beantworten können, schauen wir uns den Begriff nach dem Bauordnungsrecht einmal genauer an.
Demnach entsteht der Bestandsschutz, wenn die entsprechende bauliche Anlage zum Zeitpunkt ihrer Errichtung bzw. Nutzungsaufnahme bauaufsichtlich genehmigt wurde (= formelle Legalität) und/oder während eines längeren Zeitraums mit dem materiellen Recht übereinstimmt (= frühere materielle Legalität).
Gibt es Bestandsschutz bei elektrischen Anlagen?
Ein Bestandsschutz elektrischer Anlagen kann nur bedingt aus dem Bauordnungsrecht hergeleitet werden. Im übertragenen Sinne sind Maßnahmen an bestehenden elektrischen Anlagen so lange gültig bzw. haben Bestand, als diese
- nach gültigen allgemeinen anerkannten Regeln der Technik (VDE-Bestimmungen und -Normung einschließlich TGL-Vorschriften) ausgeführt wurden,
- nachfolgende Normen oder andere Regelwerke eine Anpassung an den aktuellen Stand der Technik nicht erfordern,
- Anlagen unter den zum Zeitpunkt der Errichtung bestehenden Betriebs- und Umgebungsbedingungen, für die diese ausgelegt waren, weiterhin betrieben werden,
- Mängel nicht bestehen, die eine Gefahr für Menschen, Tiere und Sachen darstellen.
Das Auswechseln elektrischer Betriebsmittel (wie z.B. Steckdosen, Zähleranlagen oder Verteiler, Schmelzsicherungseinsätze, Leuchtmittel) hebt die zum Zeitpunkt der Errichtung der elektrischen Anlage getroffenen (Schutz-)Maßnahmen nicht auf – die elektrische Anlage hat sozusagen noch den Bestandsschutz.
Grundsatz: Anpassung einer elektrischen Anlage geht vor Bestandsschutz
Im Zweifelsfall gilt: Anpassung einer elektrischen Anlage geht vor Bestandsschutz. Elektrosicherheit, Zuverlässigkeit und Gebrauchsnutzen der elektrischen Anlage haben immer Vorrang vor dem Bestandsschutz.
Besteht Bestandsschutz oder nicht?
Der Zentralverband der Elektroindustrie hat ermittelt, dass in etwa zwei Drittel aller Gebäude in Deutschland die Elektroinstallation eine Lebensdauer von 35 bis 40 Jahren erreicht hat. Zwar wurde z.B. verstärkt das Schalterprogramm erneuert, der Kern der Installation wurde jedoch nur in geringem Maß modernisiert, nämlich die Leitungssysteme und Sicherungsinstallationen.
Werden grundlegende technische Neuerungen wie z.B. Photovoltaik, Batteriespeicher oder Elektroladestationen nachgerüstet, so stellt dies die Elektrofachkraft häufig vor technische Herausforderungen bei der Beurteilung der bestehenden elektrischen Anlage: Besteht noch Bestandsschutz oder nicht?
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Arbeitsschutzgesetz – Betriebssicherheitsverordnung – Arbeitsstättenverordnung
Sobald die Frage auf das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) kommt, sind die Verordnungen zum Arbeitsschutzgesetz – Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) und Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) – maßgebend. Hier werden Schutzziele (Beurteilung der Gefährdung) formuliert, um für den Arbeitgeber eine hohe Flexibilität zu ermöglichen. Das bedeutet auch: Eine „hohe Flexibilität“ erfordert eine höhere Eigenverantwortung des Arbeitgebers und damit auch weniger Rechtssicherheit.
Nach der Betriebssicherheitsverordnung gibt es keinen Bestandschutz. Dieser wurde aus der Betriebssicherheitsverordnung 2002 vollständig entfernt (Maschinen, Aufzüge vor der Inbetriebnahme 1992 und Übergangszeitraum zwischen 1992 bis 1998).
Schutzziele haben höchste Priorität
Jetzt muss eine Beurteilung der Gefährdung durchgeführt werden, um festzustellen, ob das Arbeitsmittel (elektrische Anlage) sich im sicheren Zustand befindet. Auch wenn die DIN VDE 0105-100 „Betrieb von elektrischen Anlagen“ Abschn. 5.3.101 „Allgemeines“ herangezogen wird, bleiben die Schutzziele als höchste Priorität gegenüber dem Bestandsschutz.
Schutzziele gem. DIN VDE 0100-100:2009-06 Abschn. 131 „Schutz zum Erreichen der Sicherheit“:
„131.1 Allgemeines
Die in 131.2 bis 131.7 enthaltenen Anforderungen sind dazu bestimmt, die Sicherheit von Personen, Nutztieren und Sachwerten hinsichtlich der Gefahren und Schäden sicherzustellen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch elektrischer Anlagen entstehen können. Die Anforderungen für die Sicherheit von Nutztieren sind in den für die Nutztiere bestimmten Räumlichkeiten anzuwenden.“
Gesetzliche Unfallversicherung
Der zweite Bereich geht in Richtung gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Im Anhang 3 der DGUV Vorschrift 3 wird die DIN VDE 0105-100 als elektrotechnische Regel geführt. Hier tritt ähnlich der Betriebssicherheitsverordnung die Vermutungswirkung ein. Wenn die technischen Spezifikationen der elektrotechnischen Regeln eingehalten werden, ist die Sicherheit gewährleistet.
Fazit
Alte elektrische Anlagen sind also immer
- nach der Inbetriebnahme,
- nach Veränderungen (einschl. Änderung der Nutzung und Nutzungsbedingungen),
- nach Unfällen (einschließlich Beinahe-Unfällen) und
- in bestimmten Zeiträumen wiederkehrend
zu beurteilen, ob der sichere Zustand gewährleistet ist.
Das alles obliegt nur dem Eigentümer der elektrischen Anlage. Dieser muss sich mit dem Betreiber der elektrischen Anlage (z. B. Arbeitgeber, Unternehmer, Mieter usw.) über den sicheren Betrieb einer elektrischen Anlage abstimmen.