Verkehrspolitik: Wohin steuert die Ampelkoalition?
Wer bekommt das meiste Geld? Darum geht es derzeit im Streit innerhalb der Koalition um die künftige Verkehrspolitik. Die Grünen wollen den Schwerpunkt der Investitionen auf die Bahn legen, die FDP auf den Ausbau der Straßen. Verkehrsminister Wissing legt dazu Zahlen vor.
Material mit Vor- und Nachteilen
Bis 2051 wird der Verkehr überall in Deutschland zunehmen, besonders stark im Güterbereich. Im Vergleich zu 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, steigt hier die Verkehrsleistung um die Hälfte – von 679 auf 990 Milliarden Tonnenkilometer. Das geht aus der neuen Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) von Intraplan Consult GmbH und Trimode Transport Solutions GmbH (TTS) hervor, die Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing in Berlin gemeinsam mit Studienautor Dipl.-Math. oec. Tobias Kluth von Intraplan vorstellt. Sie reicht bis ins Jahr 2051 und berücksichtigt, wie das Ministerium mitteilt, u.a.
- ein deutlich gestiegenes Bevölkerungswachstum,
- Veränderungen durch die Energiewende und
- Folgen des Ukraine-Krieges.
LKW dominiert weiter
Der LKW bleibt danach dabei das dominierende Verkehrsmittel:
- Er nimmt an Bedeutung weiter zu um 54 Prozent auf der Straße.
- Der Güterverkehr auf der Schiene legt um ein Drittel zu.
- Die Wasserstraße stagniert. Zu den Gründen hierzu lesen Sie alles Wissenswerte in unserem Beitrag „Binnenschiff: Der vergessene Transportträger“.
- Der Personenverkehr wird um 13 Prozent auf fast 1.400 Milliarden Personenkilometer im Jahr 2051 ansteigen.
Bei den einzelnen Verkehrsträgern gibt es starke Zuwächse beim:
- Bahn- und Luftverkehr von über 50 Prozent,
- Radverkehr um 36 Prozent,
- Straßenverkehr nur geringfügig.
Dennoch bleiben Auto und Motorrad mit Abstand beliebtestes Fortbewegungsmittel der Menschen in Deutschland. Mehr als zwei Drittel aller Wege werden den Angaben zufolge damit zurückgelegt.
Güterstrukturwandel: Weniger Kohle, mehr Sendungen
Verantwortlich für die starke Zunahme des Verkehrs auf der Straße macht das Ministerium einen Strukturwandel im Güterverkehr. Durch die Energiewende gebe es einen starken Rückgang bei bisher vor allem auf Schiene und Wasserstraße transportierten Massen- und Energiegütern wie
- Kohle,
- Koks,
- Mineralölprodukte,
- Erze.
Großes Wachstum gibt es der Prognose zufolge bei Gütern, die überwiegend auf der Straße befördert werden. Hierzu zählen:
- Postsendungen: +200 Prozent,
- Sammelgüter: +91 Prozent
- Stückgüter: z.B. Nahrungs- und Genussmittel +29 Prozent.
Vollbeladener Zug nicht mehr vollbeladen?
Ein vollbeladener Zug, der zuvor rund 2.000 Tonnen Kohle transportierte, erreicht mit Stückgut nur einen Bruchteil hiervon. Bei gleicher zurückgelegter Transportstrecke verliert die Bahn daher Anteile im Modal-Split. Dieser gibt Auskunft über die prozentualen Anteile der Verkehrsmittel an der gesamten Verkehrsleitung. Trotz Annahme von ambitionierten Ausbauplänen stößt die Bahn an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und kann die zusätzlichen Verkehre nicht aufnehmen.
Deutschland sieht die Prognose des Weiteren vor einem klimaneutralen Umbau der mehr als 19 Millionen Wohngebäude. Dächer und Wände müssten gedämmt, Heizungen und Fenster ausgetauscht werden. Dies erzeuge einen Baustellenverkehr in neuen Dimensionen. Die Anlieferung vor Ort werde nicht mit der Bahn oder dem Binnenschiff erfolgen können, so das BMDV.
Neues Instrument der Verkehrsprognose
Mit der neuen Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose reagiert das BMDV auf neue Dynamiken im Verkehrsbereich. Sie ermöglicht erstmals einen Blick in das Verkehrsgeschehen bis ins Jahr 2051 und wird künftig jedes Jahr basierend auf neuen Daten und absehbaren Entwicklungen aktualisiert. Wissing sieht darin die Möglichkeit, seine „Verkehrspolitik an den tatsächlichen Begebenheiten“ auszurichten, „an Zahlen, Daten und Fakten und nicht an politischem Wunschdenken“.
Die Ergebnisse der neuen Langfrist-Verkehrsprognose machten seiner Ansicht nach deutlich: Der Verkehr in Deutschland werde in jeder Hinsicht zunehmen. Um einen Verkehrsinfarkt zu verhindern, brauche es dringend ein „Deutschlandtempo für den Ausbau aller Verkehrsträger“ – auch der Straße“. Wissing: „Ich kämpfe dafür, dass die Menschen in unserem Land frei bestimmt ihren Mobilitätsbedürfnissen nachkommen können und unsere Wirtschaft wächst – auch dank einer guten Verkehrsinfrastruktur.“
Umweltbundesamt, Ökoinstitut, Agora Verkehrswende
Die Transportbranche sieht sich in eigenen Einschätzungen auf Grund von Expertisen von Umweltbundesamt, Ökoinstitut und Agora Verkehrswende vor allem der Zukunft des LKW durch die ministerielle Prognose bestätigt, auch wenn diese zu geringeren LKW-Marktanteilen gekommen seien. Eine Entlastung durch die Schiene sei dabei nur in begrenztem Maße zu erwarten, da klimapolitische Entscheidungen u.a. bahnaffine Massengüter wie Kohle in der Folge marginalisierten und der vom Konsumentenverhalten getriebene LKW-affine Onlinehandel weiterhin stark zunehmen werde. Man begrüße es ausdrücklich, dass die Maxime des Bundesverkehrsministers laute, seine Verkehrspolitik an den tatsächlichen Begebenheiten, an Zahlen, Daten und Fakten und nicht an politischem Wunschdenken auszurichten.
Bremser in Bundesregierung wachrütteln
Der Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterverkehr und Logistik (BGL), Prof. Dr. Dirk Engelhardt: „Diese Verkehrsprognose von Bundesminister Dr. Wissing muss die Bremser in der Bundesregierung endlich wachrütteln!“ Deutschlands Brücken seien marode, der Fahrermangel akut, der Netzausbau für Ladeinfrastruktur liege in weiter Ferne. Die Lösungen dieser Probleme lägen auf dem Tisch. Ihre Umsetzung müsse man jetzt mit Hochdruck angehen. LKW führen nicht nur zum Spaß durch die Gegend, betont Engelhardt. Sie hätten Güter zu transportieren, mit denen sie die tagtägliche Versorgung von Bevölkerung und Wirtschaft sicherstellten.
„Dabei werden wir auch in Zukunft das Hauptwachstumssegment im Güterbahntransport – den sog. Kombinierten Verkehr Straße/Schiene – in seiner Weiterentwicklung mit Nachdruck unterstützen“, so der BGL-Vorstandssprecher.Und weiter: „Wir können jeden Euro Steuergeld nur einmal ausgeben – und das sollten wir bedenken, bevor die Versorgungsketten reißen und wir auf britische Zustände zusteuern.“
Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose
Das Prognoseformat „Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose“ wurde im Juni 2021 erstmals vergeben. Die Projektlaufzeit geht von Juni 2021 bis Mitte 2023, danach erfolgt eine Neuausschreibung für die nächste Bearbeitungsperiode. Die letzte derzeit vorliegende Verkehrsanalyse stammt aus der Verkehrsprognose 2030 (Grundlage des gültigen Bundesverkehrswegeplans und der Bedarfspläne) und bezieht sich auf das Jahr 2010.
- Diese Erkenntnisse wurden feinräumig auf das neue Basisjahr 2019 fortgeschrieben.
- Es erfolgte eine Eichung auf die Eckwerte der Verkehrsstatistik.
- Bei Vorliegen der Analyse 2019 aus der Verkehrsprognose 2040 soll das Basisjahr auf diesen Stand umgestellt werden.
Alle Analysen und Prognosen im Rahmen der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose basieren auf feinräumigen Verflechtungsmatrizen. Damit seien sachlich und räumlich feine Einzelauswertungen und Aussagen möglich. Diese Datengrundlagen können über das Projekt hinaus für weitergehende Untersuchungen zur Verfügung gestellt werden. Zentrale Herausforderung in der Prognose ist die geeignete Operationalisierung der Prognoseprämissen im Rahmen des makroskopischen Modellansatzes. Neben klassischen Themen umfassen die Prämissen diverse Randbedingungen aus den Bereichen Verkehrswende und Klimaneutralität. Dennoch handele es sich nicht um eine Zielprognose, sondern um einen Was-wäre-wenn-Ansatz.
Pilotprognosen der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose
Die beiden Pilotprognosen der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose, die „Prognose 2021“ und die „Prognose 2022“, wurden zeitlich parallel zur Verkehrsprognose 2040 erarbeitet. Für Letztere wurden die Arbeiten im September 2021 aufgenommen und sollen für den Prognosefall 1 („Basisprognose 2040“) im Sommer 2023 abgeschlossen werden. Nachgelagert werden dort noch weitere Prognosefälle / Langfrist-Szenarien erarbeitet. Die zeitliche Parallelität habe man genutzt, um soweit wie möglich auf gemeinsamen Prognoseprämissen aufzubauen. Die Prämissen zum Prognosefall 1 der Verkehrsprognose 2040 hatte das Ministerium im August 2022 freigegeben. Sie konnten somit für die „Prognose 2022“ der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose (Sachstand Oktober 2022) verwendet werden.
Datenquellen im Güterverkehr
Basis sind Daten:
- der amtlichen Verkehrsstatistik des Statischen Bundesamtes (Schiene und Wasserstraße) sowie
- des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) Straße.
Die Gütergruppendifferenzierung erfolge nach 20 Abteilungen der NST-2007 des Einheitlichen Güterverzeichnisses für die Verkehrsstatistik (Nomenclature uniforme des marchandises pour les statistiques de transport, révisée, NST) für die Straße und nach 81 NST-2007-Gruppen für die Daten der Schiene und der Wasserstraße. Die NST-2007-Struktur ermöglicht einen Bezug zur Produktionsstatistik und zur Wirtschaftsstruktur. Die Verkehrsdaten werden auf 25 Gütergruppen zusammengefasst bzw. verteilt (Daten der Straße):
- 19 Gütergruppen mit direktem Wirtschaftsbezug
- 6 Gütergruppen ohne direktem Wirtschaftsbezug: hier ist eher ein Bezug zur Transport- und Beförderungsart gegeben
Für die Prognose der Außenhandelsentwicklung werden Daten der Außenhandelsstatistik nach 279 Stellern ausgewertet. Die Umschlüsselung der Außenhandelsdaten erfolgt auf die 19 Gütergruppen mit Wirtschaftsbezug
Basisjahr wegen Pandemie 2019
Das Basisjahr der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose ist pandemiebedingt bis auf Weiteres das Jahr 2019. Es wurde abgeleitet als Fortschreibung der Analyse 2010 der Verkehrsprognose 2030. Bei Vorliegen der Analyse 2019 der Verkehrsprognose 2040 wird es durch diesen aktuelleren Stand ersetzt.
Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose zielt nicht auf ein einzelnes Prognosejahr ab, sondern umfasst vier Prognosejahre:
- 15, 20, 25 und 30 Jahre in der Zukunft.
- für die aktuelle „Prognose 2022“ die Jahre 2036, 2041, 2046 und 2051.
Diese Prognosejahre und nach Überwindung der Pandemie und Erreichung eines stabilen Analysezustandes das Analysejahr gleiten mit jeder Prognose um ein Jahr weiter in die Zukunft. Für die „Prognose 2023“ werden dies also die Jahre 2037 bis 2052 sein, basierend voraussichtlich weiterhin auf dem Analysejahr 2019.