Studie: EU gewinnt als Beschaffungsmarkt
Sich warm anziehen, das wird mehr und mehr zur Herausforderung für die Textilindustrie – im doppelten Sinne. Den wesentlichen Antrieb gibt die zumal in dieser Branche Abhängigkeit von Lieferketten. Eine Studie zeigt: je näher an Europa, desto besser kommen Lieferanten durch die Krise.
Eine Branche im Wandel
60 Millionen Angestellte, 17 Millionen Tonnen Textilien und 80 Milliarden Kleidungsstücke jährlich – das sind nur einige Kennzahlen, die laut „Texpertise“ der Frankfurter Messe die Bedeutung der globalen Bekleidungsindustrie verdeutlichen. Die Branche befindet sich demnach im Wandel durch:
- Globalisierung,
- Digitalisierung
- Auslaufen von Handelsbeschränkungen,
- sich verändernde Nachfrage
- kurze Produktlebenszyklen
Dadurch erhöht sich der Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck in der Industrie. Der Großteil der Textilproduktion hat sich schon lange in Entwicklungs- und Schwellenländer verlagert, die ihre Waren dann beispielsweise nach Europa oder in die USA exportieren. Die Folge davon sind oftmals komplexe und häufig undurchsichtige Lieferketten.
WHO: China Spitze bei Textilexport
Die weltweite Hitliste der Bekleidungsexportländer führten 2019 laut der Welthandelsorganisation (WTO) an:
- China mit einem Exportvolumen von 150 Milliarden US-Dollar,
- Bangladesch mit einem Exportvolumen von 33 Milliarden US-Dollar und
- Vietnam mit einem Exportvolumen von knapp 31 Milliarden US-Dollar.
In Europa liegt
- Italien mit einem Exportvolumen von 26 Milliarden US-Dollar knapp vor
- Deutschland mit 24 Milliarden US-Dollar.
Zu den weltweit wichtigsten Importländern zählte die WTO 2019
- USA mit einem Importwert von 95 Milliarden USD,
- Deutschland mit 39 Milliarden US-Dollar
- Japan mit knapp 30 Milliarden US-Dollar.
Nähe zu Europa
Lieferanten mit Sitz in oder nahe Europa kommen besser durch die internationalen Krisen. So eine Kernaussage des „Global Sourcing Reference 2022”-Reports der Unternehmensberatung Accenture. Er ging der Frage nach: Wie wirkt sich die global angespannte Lage auf die Einkaufsmärkte der Textilindustrie aus?
Einflüsse auf globale Textil-Beschaffung
Der Ausbruch von Corona hat demnach die globalen Wirtschaftsabläufe stark beeinflusst. Das betreffe nicht zuletzt die Lieferketten. Von ihnen sei kaum eine so betroffen wie vor der Pandemie. Auf Marken, Einzelhändler und Hersteller zumal der Modebranche kamen dem Bericht zufolge 2020 und 2021 ungewohnte Herausforderungen zu, mit denen sie oft heute noch zu kämpfen hätten:
- Aufträge würden in großem Umfang storniert,
- Produktionsquellen versiegten,
- Überbestände füllten die Läger
- zahlreiche Betriebe hätten sich neu aufstellen und konsolidieren müssen.
Produktionsländer können Bedarfe nur unzureichend befriedigen
Zwar erholten sich die wichtigsten Nachfragemärkte. Jedoch könnten viele Produktionsländer weiterhin die Bedarfe nur unzureichend befriedigen. Außerdem laufe der Transport über die Handelswege oft eingeschränkt, seien wirtschaftliche Beziehungen aus politischen Gründen angespannt und Rohstoffe knapp. Welche Folgen das für den globalen Beschaffungsmarkt am Beispiel des Bekleidungssektors hat, zeigt der „Global Sourcing Reference 2022”-Report. Für die Studie hat Accenture Strategy von November 2020 bis Mai 2021 Einkaufsleiter von nordamerikanischen und europäischen Einzelhandelsunternehmen mit einem Gesamtumsatz von mehr als 180 Milliarden US-Dollar befragt.
Report: Europa gewinnt, Asien verliert
Eine wesentliche Erkenntnis des Reports: Das Beschaffungsvolumen für die Regionen Nordamerika und Europa ist 2020 deutlich zurückgegangen. Allein in Europa verringerte es sich mit 32 Prozent um gut ein Drittel. Das hätten vor allem Lieferanten in Fernost zu spüren bekommen. So offenbare ein Blick auf die Marktanteile, dass eine Rückverlagerung von weiter entfernten Beschaffungszielen näher an Europa oder Nordamerika stattfinde. Die Forscher sehen darin eine Reaktion auf die andauernde Volatilität sowie die Risiken auf Nachfrage- und Angebotsseite. Kürzere Wege erlaubten es Unternehmen bei kurzfristigen Entwicklungen, spät zu entscheiden und schnell zu reagieren.
Dieser Trend zeige sich insbesondere an China. Das Land stellt derzeit 25,3 Prozent der europäischen Bekleidungsimporte und habe immer noch den größten Marktanteil. Jedoch habe er 2014 noch bei 34 Prozent gelegen, 2011 sogar bei mehr als 40 Prozent. Vergleichbare Einbußen zeigten sich bei den Textillieferanten in
- Bangladesch,
- Indien,
- Kambodscha und
- Sri Lanka.
Demgegenüber litten mit minus 27 Prozent weniger unter der Krise Anbieter in der Nähe der europäischen Beschaffungsmärkte wie:
- Türkei,
- Polen,
- Tunesien oder
- Rumänien.
Relativ gesehen konnten sie ihre Marktposition sogar ausbauen.
Herausforderungen des Beschaffungsmarktes
Die Studie befragte die Beschaffungsmanager im Einzelhandel nach ihren weiteren Herausforderungen, Prioritäten und Prognosen. Dabei konnten bis zu drei Punkte für maximale Relevanz vergeben werden.
- Beschaffung nachhaltiger Materialien: 2,7 Punkte
- Verfügbarkeit von Rohstoffen: 2,4 Punkte
- Transportkosten: 2,4
- Lieferzuverlässigkeit: 2,0
- Lieferantenkapazität: 1,9
- finanzielle Stabilität der Lieferanten: 1,9
Von einer Ausweitung des Gesamtumfanges im Beschaffungsmarkt geht die Hälfte der befragten Sourcing-Führungskräfte aus. 39 Prozent rechnen überdies mit einem Anstieg der Volumina pro Bestellung. 67 Prozent erwarten, dass sich die Lieferantenportfolios verringern.
Im Einklang mit den Bedenken hinsichtlich Liefermarkt- und Lieferantenstabilität, Materialverfügbarkeit und Transportkosten sehen 72 Prozent der Befragten eine wahrscheinliche Zunahme der Nearshore-Beschaffung und ebenso viele eine stärkere Einbeziehung der Marken in das Material-Management. 61 Prozent erwarten von den Lieferanten, dass diese sie stärker in die Produktinnovation einbinden.
Verlässlichkeit, Tempo, Qualität
Neben der Verlässlichkeit hinsichtlich des Tempos, der Qualität und den möglichen Stückzahlen spielt laut „Texpertise“ nach wie vor der attraktive Preis eine entscheidende Rolle, wenn es um geografische Auftragsvergaben zur Beschaffung von Bekleidung und Textilien geht. Neue, preisattraktivere Länder könnten sich deswegen am globalen Sourcingmarkt positionieren. Immer mehr Einkäufer wenden sich zum Beispiel dem Beschaffungspotenzial afrikanischer Länder mit aufstrebenden Textilindustrien zu, wie zum Beispiel:
- Ghana,
- Kenia und
- Äthiopien.
Schon länger hätten sich etabliert die Märkte in:
- Madagaskar,
- Mauritius und
- Marokko.
Textil von Globalisierung stark geprägt
Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist eine der wichtigsten Konsumgüterbranchen Deutschlands. Sie erreichte laut dem Umwelt-Bundesamt in Deutschland im Jahr 2012 ein Umsatzvolumen von 19 Milliarden Euro. Die Textil- und Bekleidungsindustrie beschäftigt in Deutschland ungefähr 120.000 Personen in 1.200 überwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen. Mehr als 50 Prozent der in Deutschland hergestellten Textilien sind sogenannte technische Textilien. Diese Textilien werden eingesetzt beispielsweise:
- in der Autoproduktion,
- im Baugewerbe und im Landschaftsbau,
- in der Medizin und
- im Umweltschutz.
Neben den technischen Textilien werden in Deutschland Bekleidungs- sowie Heim- und Haustextilien produziert. Die Textilindustrie umfasst die Herstellung von:
- Garnen und Zwirnen aus verschiedenen Faserarten,
- textilen Flächen
- Hierbei werden die Flächen zum Beispiel gefärbt, bedruckt und mit besonderen Eigenschaften ausgerüstet.
Die Textilbranche ist stark von der Globalisierung der Märkte geprägt. So stammt laut Umwelt-Bundesamt circa 90 Prozent der in Deutschland gekauften Bekleidung aus dem Import, zum größten Teil aus China, der Türkei und Bangladesch. Vor einem Jahr musste die deutsche Textilindustrie einen herben Umsatzeinbruch verkraften, siehe „Umsatzeinbruch bei deutscher Textilindustrie“.
Nähe zu den Beschaffungsländern
Insbesondere die räumliche Nähe zu den Beschaffungsländern gewinne in Hinblick auf die schnellere Beschaffungsmöglichkeit und verlässlichere Logistikkette an Bedeutung. Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey & Company aus dem Jahr 2018 glaubten knapp 80 Prozent der Einkäufer daran, dass Nearshoring als Verlagerung betrieblicher Aktivitäten ins umliegende Ausland beim Sourcing bis 2025 immer wichtiger werde. Wohlgemerkt: – dieser Wert wurde bereits vor dem Ausbruch der globalen Corona-Pandemie ermittelt. Die Forscher gehen davon aus, dass er aufgrund dieser und der mit ihr einhergehenden Sinnkrise in die Verlässlichkeit globaler Supply Chains eher angewachsen als gesunken sein dürfte. Für die USA prognostiziert McKinsey & Company neben den USA selbst als die wichtigsten Beschaffungsmärkte im Nearshoring bis 2025:
- Mexiko,
- Guatemala,
- Haiti,
- El Salvador und
- Honduras.
Für europäisches Sourcing werden McKinsey zufolge Zugewinne verbuchen können:
- Türkei,
- Marokko,
- Großbritannien,
- Portugal,
- Mazedonien und
- Tunesien.
Für Mensch und Umwelt
Als weiteren Faktor zukünftiger Wege transnationaler Beschaffung nennt „Texpertise“ das am 21. Juni 2021 vom Deutschen Bundestag beschlossene Lieferkettengesetz. Ab 2030 müssen deutsche Unternehmen die Einhaltung von Menschenrechten entlang ihrer Lieferkette kontrollieren. Es soll einen Beitrag zur Einhaltung grundlegender Menschenrechtsstandards wie zum Beispiel dem Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit leisten. In Frankreich greift der Schutz der Lieferketten durch ein Gesetz schon seit 2017. Menschenrechtsrisiken in ihrer gesamten Lieferkette müssen abbilden und verhindern:
- große Unternehmen mit 5.000 Beschäftigten einschließlich der französischen Tochter- und Enkelgesellschaften oder
- mit 10.000 Beschäftigten einschließlich aller Tochter- und Enkelgesellschaften weltweit.
In Australien gibt es seit 2019 den „Modern Slavery Act“. Dort soll mehr Transparenz in Lieferketten zur Eindämmung moderner Sklaverei beizutragen.
Schutz der Textilarbeiter
Ein weiterer, bewährter Ansatz zum Erhalt des Gesundheitsschutzes der Arbeiter u.a. in der Textil- und Bekleidungsindustrie und zur Vermeidung negativer Umweltauswirkungen ist die Reach-Verordnung der Europäischen Union. Sie gilt für alle chemischen Stoffe und Verbindungen und beruht auf dem Grundsatz, dass Hersteller, Importeure und nachgeschaltete Anwender die Verantwortung für die Chemikalien übernehmen, die bei der Produktion der durch sie importierten, hergestellten und in Verkehr gebrachten Waren eingesetzt wurden. Darüber hinaus definiert die Verordnung laut „Texpertise“ strikte und einklagbare Grenzwerte zu bestimmten Chemikalien und schaffe eine Bewertungsgrundlage zur potenziellen Gefährlichkeit von Chemikaliengruppen. So könne man freien Verkehr von Chemikalien, Wettbewerbsfähigkeit und Innovation fördern.