17.01.2023

Kombinierter Verkehr: Auch für KMU von Vorteil?

Kaum ein Bereich ohne Klimaschutz. Auch der Güterverkehr könnte umweltfreundlicher sein. Die Lösung: Verlagerung von der Straße auf die Schiene. Wissenschaftler fordern die Reaktivierung alter Bahnstrecken. APS und BGL digitalisieren die Buchung im Kombinierten Verkehr.

Kombinierter Verkehr Vorteil

Ein Güterzug = 52 LKW-Transporte = ein Dilemma

Ein Güterzug könnte 52 LKW-Transporte ersetzen. Doch in den meisten Fällen tut er es nicht. Die Bahn steht vor einem Dilemma:

  • einerseits die nachhaltige Mobilität zu beschleunigen,
  • andererseits diese Anforderungen nur teilweise erfüllen zu können aufgrund von Überlastung, so dass Züge oftmals ohnedies nicht pünktlich fahren können.

Wie Prof. Dr.-Ing. Nils Nießen von der RWTH Aachen in dem Podcast „Technik aufs Ohr“ von VDI e.V. und ingenieur.de der VDI Verlag GmbH einräumt, kann die Bahn mit den Anforderungen nach Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit derzeit nicht erfüllen. Er beziffert zum Beispiel den Anteil pünktlich verkehrender Fernzüge auf nur 60 Prozent. Im Personennahverkehr sieht es ihm zufolge etwas besser aus. Deutschland stehe hier im Mittelfeld. Die Strukturen je Land sind verschieden, so dass sich die Länder schwer vergleichen lassen. Sind die Netze isoliert und fahren im Mischverkehr Personen- und Güterverkehr auf einem Netz? Nießen sieht Nachholbedarf.

RWTH, ein Eisenbahnlehrstuhl mit 1,2 km Modelleisenbahn

Nießens Einsatzfeld an der RWTH Aachen ist ein Eisenbahnlehrstuhl mit Eisenbahnlabor und einer Modelleisenbahn von ungefähr 1200 Meter Gleislänge im H0-Maßstab. Damit repräsentiert die Hochschule einen Netzbereich von hundert Kilometern. Diese Modellanlage ist laut Nießen mit Originalstellwerken, wie sie heute noch zum Einsatz kommen, verknüpft.

Dabei handele es sich um mechanische Stellwerke vor allen Dingen für Demonstrationszwecke in der Lehre, aber auch um moderne, digital-elektronische Stellwerke. An dieser Anlage können die Wissenschaftler am Modell testen, was in der Realität nicht möglich wär. Sie nutzen die Anlage als Transferstelle, um die Dinge aus der Forschung in den Praxisbetrieb zu bringen, und validieren so die Algorithmen zur Verspätungsminimierung.

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Nießen: „Wir wollen und müssen viel Anstrengung unternehmen, das Thema Bahn nach vorne zu bringen. Die Mobilitätswende muss gelingen, und da muss die Bahn ihren Beitrag leisten. Ich hoffe, dass wir uns hier als Eisenbahn in Deutschland die nächsten Jahre weiter in die Spitzengruppe vorarbeiten können.“

Hohe Ziele

Einerseits habe man sich die Ziele sehr hoch gesteckt. So gibt die Politik zum Beispiel im Koalitionsvertrag vor, bis 2030 mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen und die Anzahl der Personen im Fahrgastverkehr zu verdoppeln. Im Güterverkehr soll der Anteil im Modalsplit von achtzehn auf fünfundzwanzig Prozent steigen. Dieser Mehrverkehr ist Nießen zufolge nur schwierig unterzubringen. Heutzutage ständen einige Strecken und vor allen Dingen Eisenbahnknoten an ihren Kapazitätsgrenzen.

Nießen weist in diesem Zusammenhang besonders auf drei Probleme hin:

  • zu wenig Infrastruktur: Hier fehle es insbesondere an Strecken und Weichen in Bahnhöfen.
  • schlechter Zustand dieser wenigen Infrastruktur: Sie habe man nicht genug gewartet und müsse sie nun sanieren. Damit kämen Baustellen hinzu. Diese schränkten die Verfügbarkeit weiter ein und das Netzwerk werde noch kleiner.
  • technischer Zustand der Züge: das Rollmaterial ist nicht im besten Zustand.

Nießen zufolge führt dies zu einem Pull- oder Dominoeffekt:

  • Auf dieser unzulänglichen Infrastruktur
  • sollen – eigentlich erfreulicherweise – viele Zugfahrten stattfinden
  • bei guter Nachfrage nach Verkehr, Güterverkehr wie Personenverkehr.
  • Bei einem Zwischenfall – ein Signal ist gestört, eine Weichen legt sich nicht um – kommt es
  • zu einer Verspätung und
  • einer Verspätungsfortpflanzung: eine Zugfahrt ist an der Weiterfahrt gehindert. Diese Ursache ist originär das Ereignis, was andere Züge auch beeinflusst. Es kommt zu Folgeverspätungen. Je mehr Züge unterwegs sind und je schlechter die Infrastruktur ausgerüstet ist, desto stärker die Folgeverspätung für Kunden und Reisende.

Fehlende oder falsch eingesetzte Investitionen

Ein Problem sieht Nießen darin, dass man Probleme zu spät angegangen sei. Die Bahn als ein System mit langen Lebenszykluskosten, sowohl bei den Zügen als auch bei der Infrastruktur, erfordere langfristige Planung. Da habe man in den vergangenen Jahrzehnten vielleicht zu wenig Energie, Geld und Ressourcen hineingesteckt. Folge: die Infrastruktur ist nicht in einem Top-Zustand, wie man sie benötige. Nießen: „Wir müssen jetzt diesen Investitionsrückstau aufholen.“ Das sei die Aufgabe der nächsten Jahre. „Das geht halt nicht mit weiteren Einschränkungen“, so Nießen.

Mehr Verkehr auf die Schiene

Nießen nennt mehrere Punkte, an denen künftig zu arbeiten sei:

  • in die Infrastruktur investieren: Die Gelder seien nicht ausreichend, wenn auch in letzter Zeit erhöht. Nießen spricht sich für eine Verstetigung der zu investierenden Gelder aus. Ehe eine neue Eisenbahnstrecke in Betrieb gehen kann, können fünfzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre vergehen.
  • Deswegen plädiert der Wissenschaftler für kleinere mittlere Maßnahmen, die auch kurzfristig Entlastung bringen. Bis die großen Maßnahmen greifen, dienen sie als Überbrückung.
  • Schnellere Umsetzung: die Planung müsse man beschleunigen. Helfen könnten teilweise Reaktivierungen von ehemaligen Eisenbahnstrecken.
  • Steigerung der Zuverlässigkeit.

An diesen Problemkreisen forsche man an der RWTH Aachen und arbeite die Bahn:

  • pünktlicher werden,
  • Steigerung der Qualität bei Betriebsabwicklungen,
  • Bessere Entscheidungen zum Beispiel im Verspätungsfall eines Zuges, damit eine Verspätung sich auf andere Züge nicht mehr oder zumindest nur eingeschränkt übertragen.
  • kleinere Maßnahmen etwa an Bahnsteigen: Wie lassen sich beispielsweise Haltezeiten einhalten, wenn ein Zug in wenigen Minuten wieder weiterfahren soll, es aber nicht möglich ist aufgrund zu vieler Reisender, die ein- und aussteigen wollen? Wie ließe sich mit einer gezielten Fahrgastlenkung das Ein- und Aussteigen schneller realisieren?

Modernere Leitungssicherungstechnik

Ganz wichtig ist aus Sicht Nießens:

  • eine modernere Infrastruktur der Stellwerke oder Leitungssicherungstechnik,
  • Digitalisierung
  • predictive Maintenance, die zustandsorientierte Überwachung von Zügen durch die Nutzung der Digitalisierung mit Methoden und Algorithmen, die schon zum Beispiel bei einer Weiche Defekte erkennen, bevor diese zu Tage treten, die Weiche ausfällt, und meldet, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, so dass das entsprechende Element gewartet werden kann, um einen Ausfall und diese großen Störungen mit den negativen Effekt für die Reisenden zu vermeiden.

In Hinblick auf die Nutzung von Digitalisierung zur Eindämmung von Verspätungen forsche man hieran. Wenn eine kleine Störung auftritt, könne der Mensch es noch selbst erkennen, wenn irgendwo ein Zug Minuten Verspätung hat und einen anderen Zug überholt werden muss. Im Regelfall sei das Aufgabe von Disponenten. Bei größeren Zwischenfällen, wenn beispielsweise ein Stellwerk wegfällt; würden die Situationen so komplex, dass eine Person es nicht überblicken kann.

Hier hülfen Computerprogramme, die als digitaler Zwilling das Betriebsgeschehen und den aktuellen Zustand kennen. Auf Basis der Prognose können sie Entscheidungen treffen, welche Zugfahrt auf welchem Gleis stattfinden kann, welche abgesagt werden müssen. Computer unterstützten dabei, das Optimum für das Gesamtsystem zu finden. Algorithmen werden getestet und transparent gemacht, um den zukünftigen Bahnverkehr zu optimieren. Das könne beispielsweise der Fall sein, wenn Verspätungen zu erwarten und zu minimieren sind, um so vielen Reisende wie möglich einen pünktlichen Bahnbetrieb zu ermöglichen. Hier sieht Nießen einen der Hebel in den nächsten Jahren, um noch mehr Qualität, mehr Pünktlichkeit und mehr Kapazität auf die Schiene zu bringen.

Klimafreundlicher Gütertransport im KV

Als ein Weg zum klimafreundlicheren Gütertransport gilt seit langem der Kombinierte Verkehr (KV), also ein Transport mit frühzeitiger Verlagerung der Ware vom Lkw auf die Schiene. Es haperte zu seiner Durchsetzung bislang an viele Hürden, die Logistikunternehmen davon abgehalten haben, sich dem KV einmal zuzuwenden, und sei es nur probeweise. Im Projekt „Truck2train“ hat die Allianz pro Schiene zusammen mit dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) in den vergangenen anderthalb Jahren Überzeugungsarbeit geleistet und versucht, Hürden abzubauen – und sei es nur probeweise.

Der Hebel zum Abbau solcher Hürden in dem Projekt: Transporte im Kombinierten Verkehr sind nun unternehmensübergreifend digital buchbar. Das soll auch kleinen und mittelständischen Unternehmen den Einstieg in den umweltfreundlichen Warentransport erleichtern, die bisher ausschließlich auf den Lkw gesetzt haben. Mit Erfolg: Am 19.12.2022 probierte ein Straßentransportunternehmen in Hamburg erstmals den Kombinierten Verkehr aus:

  • Das Unternehmen holt einen Container mit dem Lkw im Hamburger Hafen ab,
  • Bringt ihn von dort zum Terminal Hamburg-Billwerder
  • Setzt ihn dort vom Lkw auf den Zug
  • Der Container reist – statt die gesamte Strecke mit dem Lkw – per Güterzug nach Nürnberg.

„Das spart nicht nur eine Menge CO2, sondern auch gut 50 Prozent der Transportkosten – und das ohne einen Zeitverlust im Vergleich zum Lkw-Transport“, geben sich die Veranstalter der KV-Probe gewiss.

Der Kombinierte Verkehr an sich ist nicht neu. In diesem Testfall ist die Nutzergruppe neu. Bislang hatte der überwiegende Teil kleiner und mittelständischer Straßentransportunternehmer Scheu, den KV auszuprobieren. Sie hätten keine Vorerfahrung und entsprechend kein Know-how hierzu.

Allianz-pro-Schiene-Pressesprecherin Sabrina Wendling: „Im Truck2Train-Projekt haben wir Lösungen erarbeitet, die diesen Unternehmen den Einstieg in den KV erleichtern. Im Fokus stehen hierbei digitale KV-Buchungsportale wie ‚modility‘ und der ‚ICB‘ von Rail-Flow, die es seit kurzem auf dem Markt gibt.“

Im Zuge des Projekts sei es gelungen, ein Straßentransportunternehmen ohne KV-Vorerfahrung davon zu überzeugen, den KV nach einer Buchung über ein solches Portal auszuprobieren. „Dieses Unternehmen in Hamburg bei seinem Pilottransport begleiten und zeigen, dass man keine Scheu vor dem KV haben muss“, so Wendling.

„Ein Großteil der kleinen und mittelständischen Transportunternehmen hat den Kombinierten Verkehr noch gar nicht ausprobiert“, sagt der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, Dirk Flege. „Das liegt vor allem daran, dass die meisten gar nicht wissen, welche Möglichkeiten es da gibt und welche Kosten auf sie zukommen. Außerdem war die Buchung eines mehrgliedrigen Transportwegs bisher ziemlich aufwändig. Dass sich so eine Transportkette jetzt mit ein paar Klicks digital buchen lässt, ist ein Anreiz für alle Straßentransportunternehmen, die Kombi aus Zug und Lkw einfach mal auszuprobieren und so einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.“

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)