26.01.2023

Fernride macht Teleoperation praxistauglich

Immer mehr Waren bewegen mit immer mehr LKW, aber immer weniger LKW-Fahrern. Eine unmögliche Quadratur des Kreises. Ihr zu entgehen, verspricht eine Lösung des Münchner Start-up-Unternehmens „Fernride“. U.a. der Hamburger Hafen sieht darin die Chance für Teleoperation.

Fernride

Autonomie von LKW gegen Fahrermangel

„Fernride“ will die Autonomie von Lkw und Zugmaschinen in der Praxis entwickeln und verfolgt damit folgende Ziele:

  • Schrittweise Transportlogistik automatisieren
  • Nachhaltigkeit in der Logistik vorantreiben
  • dem Lkw-Fahrermangel entgegenzuwirken

Dabei setzt das Unternehmen auf eine Kombination aus bereits verfügbarer autonomer Technologie der Fahrzeuge und menschlicher Expertise im Fernbetrieb, die unmittelbar im Regelbetrieb eingesetzt werden kann. Dies biete einen direkten Mehrwert und beschleunige den Weg zu einer nachhaltigeren Logistik, heißt es in einer Unternehmensmitteilung von „Fernride“ dazu. Mit der Technologie des Münchener Unternehmens können LKW aus großer Entfernung gestartet, gelenkt und gestoppt werden.

Einen wichtigen Mitstreiter hat das Unternehmen in HHLA Next gefunden, der Innovationseinheit der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA). Sie investiert in das Münchener Start-up. Gemeinsam mit HHLA International startet es ein Pilotprojekt für hochautomatisierte und elektrische Containerlogistik am HHLA TK Estonia Terminal in der estländischen Hauptstadt Tallinn, dem früheren Reval. Im dortigen Seehafen Muuga, nahe der Hauptstadt Tallin, betreibt die HHLA den Multifunktionsterminal HHLA TK (TK: Transiidikeskuse) Estonia. Als eigenen Angabe zufolge Marktführer beim Containerumschlag in Estland wickelt das Unternehmen Stück- und Schüttgüter sowie Ro-Ro-Verkehre ab. HHLA TK Estonia ist zudem an das internationale Bahnnetz angebunden.

Pilotprojekt am HHLA TK Estonia Containerterminal

HHLA Next verschaffe damit dem neuen Portfoliounternehmen den Zugang zu Tochterunternehmen im HHLA Konzern. Bei dem Pilotprojekt handele es sich um das erste seiner Art von „Fernride“ an einem Containerterminal. Als Ziel nennen die Unternehmen, die Betriebszuverlässigkeit der Technologie im Bereich des automatisierten Container-Handlings und die Technologie auf zukünftige Geschäftsmöglichkeiten hin zu beurteilen. „Fernride“ beschäftigt eigenen Angaben zufolge rund 100 Mitarbeiter. Es stattet LKW und Zugmaschinen mit Sensoren und Kameras aus, so dass diese über das Mobilfunknetz ferngesteuert fahren können.

An einem Bildschirmarbeitsplatz, der einem Fahrzeug-Cockpit nachempfunden ist, übernehmen Teleoperatoren die Fernsteuerung der Fahrzeuge. Die Teleoperation weckt große Erwartungen. Vor allem die Logistik hofft, damit ihr Fachkräfteproblem lösen zu können. Allein in Europa fehlen Hunderttausende Lkw-Fahrer. Der Teleoperator empfängt und sendet Befehle in Echtzeit. Er bedient Gaspedal, Bremse, Lenkrad und Joystick. Durch die Daten aus dem Realbetrieb kann „Fernride“ die Algorithmen weiter trainieren, um weitere Autonomiefunktionen einzusetzen. Diese Technologie ermögliche einen flexibleren Einsatz von LKW-Fahrern. Dies wiederum wirke sich positiv auf Betriebsabläufe aus. Die Möglichkeit der Fernarbeit steigere zudem die Attraktivität des Berufsbildes sowie die Sicherheit auf dem jeweiligen Betriebsgelände.

Teleoperator von „Fernride“ steuert Fahrzeug im Fernbetrieb
Teleoperator von „Fernride“ steuert Fahrzeug im Fernbetrieb

„Fernride“ sieht sich als führende Plattform für autonomes, elektrisches Fahren von LKW. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwei große Herausforderungen zu lösen:

  • den wachsenden Mangel an LKW-Fahrern zu lindern und
  • die CO2-Emissionen des Logistik-Verkehrs zu verringern.

Zehn Jahre Forschung und namhafte Partner

Mit über zehn Jahren Forschung und namhaften Partnern wie Volkswagen, DB Schenker und B/S/H stelle man die Zukunft der automatisierten Logistik zur Verfügung. Das Alleinstellungsmerkmal seines Ansatzes will „Fernride“ in der allmählichen Einführung von autonomen Fahrfunktionen kombiniert mit Teleoperation sehen. Teleoperation soll es LKW-Fahrern, besser: den künftigen Teleoperatoren ermöglichen, Elektro-LKW vollständig und sicher fernzusteuern, ohne selbst in der Kabine zu sitzen.

Die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) ist ein führendes europäisches Logistikunternehmen. Mit einem dichten Netzwerk aus Seehafenterminals in Hamburg, Odessa, Tallinn und Triest, exzellenten Hinterland-Anbindungen und damit verknüpften Intermodal-Drehscheiben in Mittel- und Ost-Europa ist die HHLA der logistische und digitale Knotenpunkt entlang der Transportströme der Zukunft. Das Geschäftsmodell setzt auf innovative Technologien und ist der Nachhaltigkeit verpflichtet. Als Innovationseinheit bieten wir Gründern, Startups und dem maritimen Logistik Ökosystem einen echten Mehrwert, indem wir die Erfahrung der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) mit ihrem tiefem Industrie- und Prozesswissen mit der Agilität eines Startups verbinden. Neben Kapital unterstützen wir bei Venture Building, Marktrecherchen, Produktpositionierung und bieten Markt- und Kundenzugang sowie eine innovative Logistikinfrastruktur. Zudem entwickeln wir Innovationen und Produkte aus der HHLA selbst heraus oder in Kooperation mit Partnern.

Nachhaltige Arbeitsabläufe

Philip Sweens, Geschäftsführer HHLA International: „Die Partnerschaft mit ‚Fernride‘ bei dem Pilotprojektes in Tallinn wird uns helfen, neue Möglichkeiten zu erproben sowie die Arbeitsabläufe an unseren internationalen Terminals zukunftsorientiert und nachhaltig zu gestalten.“ Martin Isik, CCO „Fernride“ ergänzt: „Über unser gemeinsames Projekt im laufenden und operativen Betrieb, schaffen wir die Basis für die Serienentwicklung und Anpassung unserer Lösung auf die Containerlogistik.“ Über die schrittweise Automatisierung könne man den Kundenmehrwert der Fernride-Plattform auf Containerterminals unter Beweis stellen. „Wir haben zudem den idealen Partner für eine schnelle Skalierung im Europäischen Raum dank HHLA International“, so Isik.

Simone Lode, Geschäftsführerin HHLA Next, verweist auf die Investitionen ihres Unternehmens in digitale und nachhaltige Geschäftsmodelle im Bereich der maritimen Logistik. Dazu zählt sie Lösungen zum autonomen Fahren. Hier sehe man zumal aufgrund des bestehenden Mangels an Lkw-Fahrern ein großes Potenzial. Mit „Fernride“ beteilige sich HHLA Next an einem Unternehmen, das bereits eine einsatzfähige Lösung mit einem Partnernetzwerk bei angesehenen Firmen aus Industrie & Logistik mit sehr guten Ergebnissen umgesetzt habe. Zudem unterstreiche das Projekt den Fokus von HHLA Next auf nachhaltige Logistik. Fernride-Chef Hendrik Kramer zufolge könne ein Teil der Belegschaft dank HHLA als bevorzugter Partner für den Einsatz der Plattform für autonomes, elektrisches LKW-Fahren im Bereich der Häfen die Vorteile der Fernsteuerung innerhalb von Hafengeländen bereits aktiv nutzen. Man teile mit HHLA Ambitionen, diese Technologie international zu aufzustellen. Der Hafen in Tallinn biete ideale Bedingungen, um den Grundstein dafür zu legen, so Kramer.

HHLA der dritte Konzern im Club Teleoperation

Nach dem Logistiker DB Schenker und dem Landmaschinenbauer Krone steigt, wie das „Handelsblatt“ schreibt, mit HHLA der dritte Konzern bei dem 2019 gegründeten Start-up „Fernride“ ein. Zudem teste Autobauer Volkswagen die Technologie. Ferngesteuerte Fahrzeuge könnten letztlich jedoch überall zum Einsatz kommen, wo das autonome Fahren auf absehbare Zeit utopisch bleibt. Das gilt in der Logistik, der Personenbeförderung – und beim Einsatz von Soldaten. Teleoperation erprobten unterschiedliche Unternehmen:

  • „Fernride“ ist dem Bericht zufolge eine Ausgründung aus der Technischen Universität München.
  • „Vay“, ein Berliner Start-up für ferngesteuerte Autos, haben Manager gegründet, die im Silicon Valley und der deutschen Autoindustrie am autonomen Fahren gearbeitet haben.
  • „Rheinmetall“ und „Diehl“ sind Rüstungskonzerne mit hundertjähriger Geschichte an Fernsteuerungstechnologien.

Strategische Partner Krone und Fernride

Um die Automatisierung von Logistik- und Transportlösungen, vor allem im Bereich der Trailer maßgeblich voranzutreiben, haben der Nutzfahrzeugspezialist Krone und Fernride im September 2022 eine strategische Partnerschaft vereinbart. Die Partner wollen hier einen automatisierten Trailer entwickeln, der zunächst die wichtigen Sekundärfunktionen automatisch umsetzt, wie etwa:

  • den Kuppelvorgang,
  • das Schließen von Türen oder
  • die sensorische Umfeldanalyse.

Der speziell ausgebildete Teleoperator kann sich im Transportprozess somit ganz auf die Betreuung der ihm zugewiesenen autonomen Zugfahrzeuge konzentrieren.

Schwerpunkt Yard- und Terminal-Logistik

Mit Schwerpunkt auf Yard- und Terminal-Logistik wollen beide Kooperationspartner zeitnah relevante Erfahrungen gewinnen sowie entstehende Produkte schneller zur Marktreife führen. Mittelfristig soll die weiterentwickelte Technologie auch in komplexeren Anwendungsbereichen der Transportkette zum Einsatz kommen. Die Ergänzung unterschiedlicher Kompetenzen beider Unternehmen werten sie als weiteren Schritt ihrer jeweiligen strategischen Konzentration im Geschäftsbereich der  Automatisierung. Ideale Bedingungen für die gemeinschaftliche Aktivitäten böten die internationalen Vertriebs-, Service- sowie Datenstrukturen von Krone in Verbindung mit der skalierbaren Plattformtechnologie von „Fernride“ für autonomes und teleoperiertes Fahren. Die Krone Gruppe untermauert die Partnerschaft zudem über ein strategisches Investment in das Unternehmen Fernride.

„Uns hat das motivierte Team sowie der technologische Ansatz von Fernride überzeugt“, kommentiert Bernard Krone, Aufsichtsratsvorsitzender der Krone-Gruppe, die Partnerschaft. Bereits heute löse das Unternehmen als Partner für seine und damit für unsere gemeinsamen Logistikkunden das reale Problem des Fahrermangels in Pilotanwendungen. Fernride biete mit seinem System globale Skalierungsmöglichkeiten in der Logistik und vielleicht darüber hinaus, so Krone. Er sieht in der strategischen Partnerschaft eine Win-Win-Situation für beide Unternehmen. Neben der starken internationalen Marktposition sowie der Produktionskompetenz im Nutzfahrzeugbereich verfüge Krone im Landtechniksektor bereits über weitreichende Erfahrungen auf dem Gebiet des autonomen Fahrens.

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)