EU: Deutschland verstößt gegen Eisenbahnrichtlinie
Leichter und billiger – so möchte die EU-Kommission europäische Eisenbahndienste sehen. Das wollen alle europäischen Staaten offenbar auch. Alle? Nein. Deutschland und Polen nicht. Die Kommission wirft ihnen Vertragsverletzung der entsprechenden Vorschriften vor.
Deutschland und Polen im EU-Fokus
Die EU-Vorschriften, gegen die die beiden Länder verstoßen haben sollen, betreffen die Sicherheit und die Interoperabilität im Eisenbahnverkehr. Sie sollen sie nicht korrekt umgesetzt haben. Deshalb eröffnet die EU-Kommission mit einem Aufforderungsschreiben ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland (INFR(2022)2100 und INFR(2022)2101), weil es nicht alle Anforderungen auf alle seine regionalen Netze angewandt habe.
Die betreffenden Richtlinien zielen laut EU-Kommission darauf ab, den Betrieb von Eisenbahndiensten in ganz Europa für die Unternehmen leichter und billiger zu gestalten. Sie würden insbesondere:
- schnellere und kostengünstigere Möglichkeiten schaffen, um Schienenfahrzeuge für den Einsatz in mehreren Mitgliedstaaten zuzulassen.
- Außerdem sollen sie unnötige nationale technische und betriebliche Hindernisse beseitigen, um den grenzüberschreitenden Schienenverkehr zu erleichtern.
Die Richtlinien sind Teil des Vierten Eisenbahnpakets, einer Reihe von sechs europäischen Gesetzen, die
- dem Binnenmarkt für Eisenbahndienste als Einheitlicher Europäischer Eisenbahnraum zugutekommen,
- den Eisenbahnsektor neu beleben und
- ihn gegenüber anderen Verkehrsträgern wettbewerbsfähiger machen sollen.
Viertes Eisenbahnpaket 2016
Übergeordnetes Ziel des Vierten Eisenbahnpaket aus sechs Rechtstexten ist es, den Eisenbahnsektor wiederzubeleben und gegenüber anderen Verkehrsträgern wettbewerbsfähiger zu machen. Es besteht aus zwei weitgehend parallel ausgehandelten Säulen:
- technische Säule: haben Europäisches Parlament und Rat im April 2016 angenommen, es umfasst:
- Verordnung (EU) 2016/796 über die Eisenbahnagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 881/2004
- Richtlinie (EU) 2016/797 über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union (Neufassung der Richtlinie 2008/57/EG)
- Richtlinie (EU) 2016/798 über Eisenbahnsicherheit (Neufassung der Richtlinie 2004/49/EG)
- Marktsäule: im Dezember 2016 angenommene, umfasst:
- Verordnung (EU) 2016/2338 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1370/2007 über die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste („PSO-Verordnung“)
- Richtlinie 2016/2370/EU zur Änderung der Richtlinie 2012/34/EU hinsichtlich der Öffnung des Marktes für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste und die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur befasst („Governance-Richtlinie“)
- Verordnung (EU) 2016/2337 zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1192/69 über die Normalisierung der Konten der Eisenbahnunternehmen
Sinn und Zweck der Marktsäule
Die Marktsäule schließt den mit dem Ersten Eisenbahnpaket begonnenen Prozess der schrittweisen Marktöffnung ab. Sie legt das allgemeine Recht der in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Eisenbahnunternehmen fest, alle Arten von Personenverkehrsdiensten überall in der EU durchzuführen. Des Weiteren legt sie Vorschriften fest, die Unparteilichkeit bei der Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur zu verbessern und Diskriminierungen zu verhindern. Zudem führt sie Ausschreibung öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnsektor grundsätzlich verpflichtend ein.
Wettbewerb auf den Märkten für Schienenpersonenverkehrsdienste
Die Kommission erhofft sich davon Wettbewerb auf den Märkten für Schienenpersonenverkehrsdienste. Sie will Eisenbahnunternehmen ermutigen, besser auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen und die Qualität ihrer Dienstleistungen und ihre Kostenwirksamkeit zu verbessern. Die wettbewerbliche Ausschreibung öffentlicher Dienstleistungsaufträge soll dabei Einsparungen bei öffentlichen Geldern ermöglichen. Von der marktwirtschaftlichen Säule erwartet die Kommission, dass sie den europäischen Bürgern mehr Auswahl und bessere Qualität der Schienenverkehrsdienste als übergeordneten Ziele biete.
Sinn und Zweck der technischen Säule
Die technische Säule soll die Wettbewerbsfähigkeit des Eisenbahnsektors steigern, indem sie eine erhebliche Senkung der Kosten und des Verwaltungsaufwands für Eisenbahnunternehmen, die in ganz Europa tätig werden wollen, bewirken. Insbesondere soll es:
- Unternehmen davor schützen, kostspielige Mehrfachanträge einreichen zu müssen, wenn es sich um Vorhaben außerhalb eines einzigen Mitgliedstaats handelt. Der Europäische Eisenbahnraum (European Railway Area ERA) soll Fahrzeuggenehmigungen für das Inverkehrbringen und Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen ausstellen, die in der gesamten EU gültig sind. Bisher musste jede zuständige nationale Sicherheitsbehörde Eisenbahnunternehmen und Hersteller getrennt zertifizieren.
- einen One-Stop-Shop schaffen als zentrale Anlaufstelle für alle diese Anwendungen unter Verwendung einfacher, transparenter und konsistenter Verfahren.
- sicherstellen, dass die Ausrüstung des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems (European Rail Traffic Management System ERTMS) interoperabel ist.
- die große Zahl verbleibender nationaler Vorschriften verringern. Sie würden das Risiko unzureichender Transparenz und verschleierter Diskriminierung neuer Marktteilnehmer mit sich bringen.
Zwei Monate Zeit
Die Mitgliedstaaten hatten bis Juni 2019 Zeit, die neuen Vorschriften in nationales Recht umzusetzen, eine Frist, die sie um ein Jahr verlängern konnten. Aber offenbar haben sie diese Frist nicht im Sinne der Kommission genutzt.
Deutschland habe nun zwei Monate Zeit, um auf das Aufforderungsschreiben der EU-Kommission zu antworten. Erhalte man keine zufriedenstellende Antwort, könne die Kommission begründete Stellungnahmen abgeben. Polen hat ebenfalls zwei Monate Zeit, um zu antworten und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Andernfalls könne die Kommission die Fälle an den Europäischen Gerichtshof verweisen.
Verschiedene Sektoren und EU-Politikfelder
Die Europäische Kommission überwacht die ordnungsgemäße und fristgerechte Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften. Aus diesem Grund hört sie sich gern als „Hüterin der Verträge“ bezeichnet. Sie leitet regelmäßig rechtliche Schritte gegen Mitgliedstaaten ein, die ihren Verpflichtungen aus dem EU-Recht nicht nachkommen. Die Verstöße gegen das EU-Recht unterteilt die Kommission in vier große Kategorien ein:
- Nichtmitteilung: Ein Mitgliedstaat teilt der Kommission nicht rechtzeitig seine Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht mit.
- Nichteinhaltung: Die Kommission ist der Auffassung, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates nicht im Einklang mit den Bestimmungen der EU-Richtlinien stehen.
- Verstoß gegen die Verträge sowie gegen Verordnungen oder Beschlüsse: Die Kommission ist der Auffassung, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates nicht im Einklang mit den Bestimmungen der Verträge, Verordnungen oder Beschlüsse der EU stehen.
- Fehlerhafte Anwendung: Das EU-Recht wird von den einzelstaatlichen Behörden nicht korrekt oder überhaupt nicht angewandt.
Solche Vertragsverletzungsverfahren betreffen verschiedene Sektoren und EU-Politikfelder. Sie sollen helfen, eine korrekte und vollständige Anwendung des EU-Rechts zu gewährleisten. Dies läge im Interesse von Bürgern und Unternehmen in der EU, so die Kommission in einer Mitteilung an die Presse. Sie kann solche förmlichen Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn ein EU-Land die Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung einer Richtlinie nicht mitteilt oder einen mutmaßlichen Verstoß gegen das EU-Recht nicht behebt. Das Verfahren läuft in mehreren Schritten ab, die in den EU-Verträgen festgelegt sind und jeweils mit einem förmlichen Beschluss enden:
- Die Kommission übermittelt dem betreffenden Land ein Aufforderungsschreiben, in dem sie um weitere Informationen ersucht. Das Land muss innerhalb einer festgelegten Frist von in der Regel zwei Monaten ein ausführliches Antwortschreiben übermitteln.
- Gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass das Land seinen Verpflichtungen nach dem EU-Recht nicht nachkommt, gibt sie eine begründete Stellungnahme ab. Dabei handelt es sich um eine förmliche Aufforderung, Übereinstimmung mit dem EU-Recht herzustellen. In der Stellungnahme erläutert die Kommission, warum sie der Auffassung ist, dass das Land gegen EU-Recht verstoße. Sie fordert es außerdem auf, sie innerhalb einer festgelegten Frist von in der Regel zwei Monaten über die getroffenen Maßnahmen zu unterrichten.
- Stellt das EU-Land daraufhin immer noch keine Übereinstimmung mit dem EU-Recht her, kann die Kommission den Gerichtshof mit dem Fall befassen. Die meisten Fälle werden allerdings vorher geklärt.
Sieben Verfahren gegen Deutschland
Derzeit sind bei der EU-Kommission sieben Verfahren gegen Deutschland anhängig u.a. wegen:
- Schlechter Anwendung der Richtlinie (EU) 2016/797 über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union durch Deutschland.
- Fehlerhafter Anwendung der Richtlinie (EU) 2016/797 über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union – Teilsystem Fahrzeuge – Lärm
- Anwendung der Richtlinie (EU) 2016/798 über Eisenbahnsicherheit durch Deutschland.
- Fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums
- Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs im Verkehrsbereich, die im Hinblick auf das Ziel der nationalen Maßnahmen zum Mindestlohn nicht erforderlich und unverhältnismäßig sind.
- Anerkennung von Besatzungsdokumenten im Plenum der 96. Donaukommission
- Nichtübereinstimmung der deutschen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie (EU) 2016/2370 – Öffnung des Zugangs zu den inländischen Eisenbahnmärkten und Steuerung der Eisenbahninfrastruktur
Seit 1996 hat die Kommission 110 Verletzungsverfahren gegen Deutschland im Politikfeld Mobilität und Verkehr wegen Verstoßes gegen Art. 258 der Verordnung zur Arbeitsweise in der EU (AEUV) anhängig gemacht, von denen noch sieben anhängig sind. Die anderen hat sie entweder zurückgenommen oder sie wurden anderweitig erledigt, entweder von den Ländern oder per Gerichtsbeschluss des Europäischen Gerichtshofes.