Datenschutzverstoß beim BEM: Krankheitsbedingte Kündigung unwirksam?
Ein Arbeitgeber spricht eine krankheitsbedingte Kündigung aus. Die Voraussetzungen dafür liegen an sich vor. Allerdings hat der Arbeitgeber beim betrieblichen Eingliederungsmanagement den Datenschutz nicht ausreichend beachtet. Das hat für ihn im Kündigungsschutzprozess gravierende Folgen.
Eine Häufung von Fehltagen über längere Zeit hinweg kann dazu führen, dass der Arbeitgeber krankheitsbedingt kündigen darf. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte hat für solche Fälle im Lauf der Jahre klare Vorgaben entwickelt. Ausgangspunkt ist die Frage, ob die Kündigung „sozial gerechtfertigt“ ist im Sinn von § 1 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz.
Um diese Frage zu beantworten, wenden die Gerichte ein 3-Stufen-Modell an. Die drei Stufen lassen sich wie folgt charakterisieren:
- Stufe 1: Auf der Basis der bisherigen Krankheitszeiten und Krankheitsursachen ist eine Prognose zu erstellen, ob auch künftig mit erheblichen Fehlzeiten zu rechnen ist („negative Gesundheitsprognose“).
- Stufe 2: Es ist zu prüfen, ob die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen werden („negative Belastungsprognose“). Als erhebliche Beeinträchtigung kommen zum einen Störungen des Betriebsablaufs infrage. Relevant können aber auch wirtschaftliche Belastungen sein, die sich aus der Fortzahlung des Arbeitsentgelts ergeben.
- Stufe 3: Im Rahmen einer Interessenabwägung ist zu prüfen, ob dem Arbeitgeber zuzumuten ist, die voraussichtlichen künftigen Belastungen hinzunehmen („Interessenabwägung“).
Die Gesundheitsprognose ist für den Kläger negativ
Auf der ersten Stufe („negative Gesundheitsprognose“) sah es für den Kläger im vorliegenden Fall ausgesprochen schlecht aus. Er hatte über mehrere Jahre hinweg 30 bis 40 Arbeitstage pro Jahr gefehlt.
Dabei ging es nicht um Fehlzeiten wegen Unfällen oder ähnlichen gesundheitlichen Ereignissen, die sich in der Zukunft voraussichtlich eher nicht wiederholen werden. Vielmehr litt er jeweils an Erkrankungen, die erfahrungsgemäß häufig wiederkehren und bei ihm zum Teil schon chronischen Charakter haben. Daraus zog das Gericht den Schluss, dass der Arbeitgeber auch künftig mit erheblichen Fehlzeiten rechnen muss.
Dem Arbeitgeber drohen unzumutbare Belastungen
Nicht besser erging es dem Kläger auf der zweiten Stufe („negative Belastungsprognose“). Das Gericht kam zu dem Schluss, dass der Arbeitgeber auch weiterhin mit deutlichen Belastungen wirtschaftlicher Art zu rechnen hat. Bei erneuten Erkrankungen des Klägers kommen auf den Arbeitgeber nämlich beträchtliche Lohnfortzahlungen zu.
Bei der Interessenabwägung auf Stufe 3 kommt der Datenschutz massiv ins Spiel
Relevante Fragen des Datenschutzes ergaben sich auf den ersten beiden Stufen nicht. Bei der Interessenabwägung auf der dritten Stufe sieht dies jedoch anders aus. Von dieser Interessenabwägung hing es im konkreten Fall ab, ob die krankheitsbedingte Kündigung wirksam ist oder nicht.
Datenschutzverstöße beim BEM machen die Kündigung unwirksam
Aus der Sicht des Gerichts führt diese Interessenabwägung auf der dritten Stufe zu dem Ergebnis, dass die krankheitsbedingte Kündigung nicht sozial gerechtfertigt ist. Die Kündigung ist unverhältnismäßig, weil der Arbeitgeber bei der Einleitung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nicht ordnungsgemäß vorgegangen ist. Er hat dabei nämlich den Datenschutz nicht ausreichend beachtet.
Das BEM ist nicht „nice to have“
Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist nichts, was ein Arbeitgeber tun oder auch lassen könnte. Bei der Prüfung, ob eine krankheitsbedingte Kündigung rechtens ist, spielt seine Durchführung vielmehr eine wesentliche Rolle.
Dabei geht das Gericht von folgenden Grundsätzen aus:
- Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist in § 167 Absatz 2 Sozialgesetzbuch IX geregelt. Dort heißt es: „Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung, … bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement).“
- Die Durchführung eines BEM ist zwar keine formelle Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Kündigung.
- Seine gesetzliche Regelung konkretisiert aber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung eine wesentliche Rolle spielt.
- Das betriebliche Eingliederungsmanagement soll dafür sorgen, dass nach Möglichkeit mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden.
- Auf ein BEM darf der Arbeitgeber deshalb nur verzichten, wenn es von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hat („objektive Nutzlosigkeit“). Will sich der Arbeitgeber darauf berufen, muss er dies darlegen und beweisen.
- Ist es dagegen denkbar, dass das BEM ein positives Ergebnis erbringt, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, dass er vorschnell gekündigt hat, wenn er ein solches Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt hat.
Im vorliegenden Fall war der Arbeitgeber gemäß diesen Grundsätzen verpflichtet, ein BEM anzubieten. Dies tat er auch. Er hat den Kläger nämlich mit einem Schreiben vom 20. Januar 2020 dazu eingeladen. Auf diese Einladung hat der Kläger nicht reagiert.
Das Gericht prüft das „Einladungsschreiben“ zum BEM sehr genau
Deshalb geht es nunmehr um die Frage, ob das Einladungsschreiben vom 20. Januar 2020 den rechtlichen Anforderungen entsprochen hat, die an ein solches Schreiben zu stellen sind. An dieser Stelle kommt der Datenschutz massiv ins Spiel.
Hierzu weist das Gericht auf Folgendes hin:
- Ein BEM lässt sich in sinnvoller Weise nur dann durchführen, wenn die gesundheitliche Ausgangssituation sorgfältig erfasst wird.
- Dies ist schon deshalb heikel, weil es dabei um Gesundheitsdaten gemäß Art. 4 Nr. 15 DSGVO geht, die durch Art. 9 Abs. 1 DSGVO besonders geschützt sind.
- Eine Betriebsvereinbarung zum BEM zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat legt im vorliegenden Fall fest, dass sich ein „Betriebliches Eingliederungsteam“ mit dem Eingliederungsmanagement befasst.
- Die Standortleitung gehört nicht zu den Mitgliedern des „Betrieblichen Eingliederungsteams“.
- Daneben besteht noch ein „Integrationsteam“. Es kann gemäß der Betriebsvereinbarung dann hinzugezogen werden, wenn es speziell um Anpassungen des Arbeitsplatzes oder der Arbeitsbedingungen geht.
- Zu diesem „Integrationsteam“ gehört auch die Standortleitung.
- Zwingende Voraussetzung für die zusätzliche Hinzuziehung des Integrationsteams ist laut Betriebsvereinbarung eine zusätzliche ausdrückliche Einwilligung des Arbeitnehmers.
Beim Einwilligungsformular zum BEM gibt es Unklarheiten
Der Arbeitgeber hat den Kläger pauschal darum gebeten, dass er die Gesundheitsdaten des Klägers unter anderem auch der „Standortleitung“ bekanntgeben darf. Dabei differenziert die Einwilligung nicht, ob die Standortleitung die Gesundheitsdaten in ihrer Eigenschaft als Mitglied des „Betrieblichen Eingliederungsteams“ oder als Mitglied des „Integrationsteams“ erhalten darf.
Dass beim Eingliederungsmanagement zusätzlich das „Integrationsteam“ zugezogen werden kann und dass dies nur geschieht, wenn der Kläger sich damit gesondert einverstanden erklärt, hat der Arbeitgeber in seinem Anschreiben an den Kläger nicht hervorgehoben.
Angesichts dieser Unklarheit musste der Kläger damit rechnen, dass der Arbeitgeber die Gesundheitsdaten des Klägers der Standortleitung auch dann bekannt geben würde, wenn die Standortleitung überhaupt nicht in das BEM eingebunden ist.
WICHTIG
Der Arbeitnehmer konnte nicht absehen, was eine Einwilligung auslöst
Aus der Sicht des Arbeitnehmers war somit unklar, welche Folgen die von ihm geforderte Einwilligung nach sich ziehen würde. Insbesondere war für ihn nicht klar zu erkennen, ob seine Gesundheitsdaten nur im Rahmen des BEM an die Standortleitung weitergegeben werden sollten oder auch darüber hinaus.
Die Unklarheiten machen die krankheitsbedingte Kündigung unwirksam
Die Unklarheiten bezüglich der gewünschten Einwilligung lösen eine ganze Kaskade rechtlicher Folgerungen aus:
- Der Arbeitnehmer war wegen der Unklarheiten bei der Einwilligung nicht verpflichtet, auf die Einladung zum BEM zu reagieren.
- Dies führt dazu, dass der Arbeitgeber das BEM nicht ordnungsgemäß eingeleitet hat.
- Der Arbeitgeber wäre jedoch verpflichtet gewesen, ein solches Eingliederungsmanagement durchzuführen.
- Da er dies nicht getan hat, ist die Kündigung, die er ausgesprochen hat, sozial nicht gerechtfertigt und damit unwirksam.
Der Arbeitgeber scheiterte an klassischen Datenschutz-Hürden
Die Einleitung und Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Sache. Alles Mögliche will dabei bedacht sein. Dass auch der Datenschutz dazugehört, macht das Gericht hier sehr deutlich. Die Herausforderungen, die damit für Arbeitgeber verbunden sind, sind enorm.
PRAXIS-TIPP
Einwilligung ist nicht ausreichend transparent
Letztlich ist die Kündigung daran gescheitert, dass der Arbeitgeber die Einwilligung, um die er den Arbeitnehmer gebeten hat, nicht transparent genug formuliert hat. Der Arbeitnehmer konnte nicht zuverlässig absehen, worin genau er eigentlich einwilligt. Dies zeigt erneut, wie wichtig es ist, Einwilligungserklärungen sorgfältig zu formulieren. Hätte der Arbeitgeber hier mehr Sorgfalt aufgewandt, hätte seine Kündigung voraussichtlich Bestand gehabt.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 20.10.2021 – 4 Sa 70/20 ist abrufbar unter https://www.landesrecht-bw.de/bsbw?Gericht=bw&nr=36334.