28.09.2016

Sind wir eine „Rüpel-Republik“ geworden?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Zug, ein Smartphone klingelt, und ihr Mitfahrer nimmt ab. Doch statt „Ich kann gerade nicht, ich bin im Zug“ zu antworten, geht es los: Nach einer kurzen Einleitung brechen alle Dämme: „Was? Die sind jetzt geschieden? DAS musst du mir erzählen!/Klar schläft der mit seiner Sekretärin, das weiß doch da jeder!/Den hab’ ich schon ein paar Mal betrunken am Schreibtisch gesehen!“ usw. Am Bahnhof geht es dann weiter: Die Menschen schubsen rücksichtslos, es wird gedrängelt und gepöbelt. Man will ja schließlich den Anschlusszug erwischen, sonst droht Ungemach mit dem Chef. Sind wir also eine „Rüpel-Republik“ geworden? Dieser Antwort versucht sich dieser Artikel zu nähern.

Rotes Rathaus Berlin

Einleitung

Sind wir zu einem Volk der Rücksichtlosen, der Anblaffer und Schreihälse geworden? Haben wir in unserer Ich-Gesellschaft tatsächlich nahezu alle sozialen Spielregeln über Bord geworfen und reagieren uns an unserem Gegenüber nur noch als Sparringspartner für den eigenen Erfolg mit den Ellenbogen ab? Haben wir das solidarische Miteinander verlernt? Und wenn ja: Warum? Gelten Worte wie Nachbarschaft, Zusammenhalt und Miteinander nichts mehr? Verrohen wir gar in den Sitten und im menschlichen Umgang? Und wenn ja: Welche Gründe dafür kann es geben? Dieser Artikel versucht sich mit zwei aktuellen Begründungen.

  1. Grund: Das Fernsehen?

Die Studien von ARD und ZDF zeigen es regelmäßig: Der Fernsehkonsum steigt stetig an. Täglich verbringen die Deutschen 242 Minuten vor dem Fernseher, das sind mehr als vier Stunden. Der reine Konsum wäre nicht das Problem, viel mehr sind es die Inhalte und Botschaften, die Sorgen bereiten sollten.

Es sind Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Topmodel“, die jungen Menschen klarmachen sollen: Konflikte werden offen mit Aggression und Hass verarbeitet, Menschen lassen sich freiwillig demütigen und beleidigen, um ein wenig „fame“ abzubekommen, und Jugendliche springen bereitwillig auf den Zug auf. Im Zweifel gilt: Kein Erfolg in der Schule, kein Job, kein Problem: Irgendein Herr Bohlen oder eine Frau Klum casten dich schon von der Straße – auch wenn sie nicht Bohlen oder Klum heißen und auch nicht wirklich in ein seriöses Netzwerk eingebunden sind.

Der Ellenbogen wird in diesen Formaten zur ultimativen Waffe im Kampf um Berühmtheit. Gnadenlos wird bei den Topmodels gelästert und intrigiert, teilweise wird der Schminktisch zum Schützengraben der Eitelkeiten und Lügen, bisweilen sogar so lange, bis die ersten labileren Charaktere psychisch zusammenbrechen. „Pech gehabt!“, lautet dann die Diagnose. Das Business ist eben hart, und sie konnte nicht mithalten. Die Funktion dieser Serien ist klar: Es werden Menschen gezeigt, über die man sagen kann „Mann, sind die asozial. Da geht es mir ja echt noch gut.“ Und schon sind Fragen nach Repression oder „dem kapitalistischen System“ ad acta gelegt.

Wir halten fest: Nicht der Konsum von Fernsehformaten an sich, sondern deren Inhalte und Botschaften sind das Problem: Jungen Menschen wird durch Formate wie DSDS vermittelt, dass nur der bedingungslose Konkurrenzkampf mit allen Mitteln zum Erfolg führt. Dass man sich dafür gegebenenfalls auf einem niedrigen Niveau demütigen lassen muss, gehört scheinbar einfach dazu. Nicht mehr die Persönlichkeit, sondern die Vermarktbarkeit des „Produkts“ steht im Vordergrund – nur wenn ich mich gut vermarkte, habe ich trotz mangelnder Fähigkeiten eine Chance, berühmt und damit reich zu werden.

  1. Grund: Die (a- und un)sozialen Netzwerke?

Wer sich in der Gegenwart die Mühe macht, einmal die sozialen Netzwerke und Kommentarforen zu durchforsten, dem bietet sich ein erschütterndes Bild der Realität: Menschen lassen ihrem Hass und ihrer Frustration ungefilterten Lauf. Es wird gegen Homosexuelle, gegen Alleinerziehende, gegen Männer, gegen Frauen und natürlich, gegen Flüchtlinge gemobbt und gepöbelt. Das Schlimme: Viele Posts sind eben nicht mehr anonym, eine große Masse an Kommentatoren glaubt sich mittlerweile in der Mehrheit und schlägt verbal um sich.

Die digitalen Errungenschaften haben unbestritten große Vorteile: Der weltweite Austausch hat dazu geführt, dass Wissenschaftler in Sekundenschnelle Ergebnisse und Daten austauschen können, Menschen können voneinander lernen und einander Rat geben. Doch vergessen wir dabei leider eines: Wirkliche, echte Kommunikation braucht immer einen gesellschaftlichen wie menschlichen Bezugsrahmen. Körpersprache und Mimik können nicht per PC gesendet werden, Ironie ist über dieses Medium nur schwer transportierbar (Schindler, 2012 S. 95).

 Fazit

Sind wir eine Rüpel-Republik? Ich glaube, dass diese Frage von jedem unterschiedlich beantwortet werden kann. Manche sind empfindlicher als andere, manche nehmen Dinge anders wahr. Was wir aber festhalten können, ist die Tatsache, dass unterschiedliche Entwicklungen in unterschiedlichen Bereichen, die man allumfassend als Deregulierung bezeichnen könnte, dazu geführt haben, dass das Nutzen des Ellenbogens zum probaten Mittel in der sozialen Konfliktlösung geworden ist.

Quellen/Literaturtipp
Schindler, Jörg: „Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial?,“ Fischer-Verlag, 2012.

(Der Artikel erschien, in veränderter Form, bereits in: „Das Baugerüst. Zeitschrift für Jugend- und Bildungsarbeit“ 03/2016, Nürnberg 2016.)

Autor*in: Benjamin Heimerl (Benjamin Heimerl ist Wahlkampfberater und Autor von „Praktische Redenbausteine für Bürgermeister“.)