12.04.2023

Überlastungsanzeige: Wann Kollegen die Notbremse ziehen müssen

In Zeiten des allgegenwärtigen Personalmangels kommen viele Beschäftigte an ihre Leistungsgrenzen. Das bedeutet zum einen, dass durch eine länger andauernde Überlastung Kollegen riskieren, krank zu werden, aber zum anderen auch, dass (Gesundheits-)Schäden für Dritte drohen. Dies ist vor allem im Pflege- und Gesundheitsbereich eine Gefahr. Dann ist unter Umständen eine Überlastungsanzeige die richtige Maßnahme.

Eine Überlastungsanzeige kann nur der betroffene Beschäftigte selbst stellen, wenn eine dieser Voraussetzungen gegeben ist:

  • Der Arbeitnehmer will sich vor drohenden rechtlichen Konsequenzen schützen, die aus seiner Überlastung folgen könnten. Das könnten etwa Abmahnungen bzw. Kündigungen sein, aber auch Schadensersatzforderungen (z.B. wenn der Beschäftigte wegen der Überlastung Sach- oder Gesundheitsschäden verursacht) oder sogar strafrechtliche Folgen (wenn z.B. Patienten gesundheitlich geschädigt werden und der Arbeitnehmer dafür wegen seiner Überlastung verantwortlich ist).
  • Der Arbeitnehmer weiß sich keinen anderen Rat mehr, um sich selbst vor Gesundheitsschäden, sei es körperlich oder seelisch, zu schützen.

Konkrete Beschreibung der Situation ist erforderlich

Mit der Überlastungsanzeige informiert der Beschäftigte den Arbeitgeber oder den direkten Vorgesetzten, dass er in der Situation (die er konkret beschreiben muss) nicht mehr sicherstellen kann, alle Arbeitsaufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen und dass unter Umständen Sach- und/oder Gesundheitsschäden drohen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass dieser Hinweis ausdrücklich als Überlastungsanzeige betitelt ist. Der Beschäftigte muss darin nur klar darstellen, warum die Situation so gefährlich ist. Der Arbeitgeber ist in jedem Fall nach Erhalt einer solchen Anzeige verpflichtet, aktiv zu werden und für eine Entschärfung der Situation zu sorgen.

Beispiel aus der Pflege

  • Die Überlastungsanzeige muss konkret die Situation schildern, etwa wie viel Personal vorhanden ist und wie viele Patienten zu versorgen sind.
  • Außerdem sollte aufgezählt werden, inwieweit die verantwortliche Pflegekraft bzw. die Stationsleitung versucht hat, die Situation zu verbessern.
  • Etwaige Gefahren für die Patienten müssen benannt werden, wie z.B.: Wegen des Personalmangels auf der Station können pflegerische Aufgaben nur unzureichend wahrgenommen werden; Mängel in der Krankenversorgung sind nicht auszuschließen.
  • Der Beschäftigte sollte in der Überlastungs­anzeige klar zum Ausdruck bringen, dass er sich weiterhin bemüht, alles korrekt auszuführen, er dies aber nicht garantieren kann.

Das kann der Betriebsrat tun

Betriebsräte haben beim betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz wichtige Mitbestimmungsrechte, unter anderem aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. In dieses Themenfeld gehören auch Überlastungsanzeigen. Deshalb ist es ratsam, dass das Gremium sich des Themas annimmt. Dabei steht an erster Stelle, dass sich zumindest eine Person im Betriebsrat damit näher beschäftigt. Denn dann ist zum einen eine kompetente Erstberatung und konkrete Hilfe für Betroffene möglich. Zum anderen kann dieses Mitglied – eventuell unter Hinzuziehung externer Experten – die Vorbereitung für Verhandlungen über eine entsprechende Betriebsvereinbarung (federführend) übernehmen.

Eine Betriebsvereinbarung schafft klare Abläufe

Wie bei vielen anderen Themen ist der Abschluss einer Betriebsvereinbarung auch beim Umgang mit Überlastungsanzeigen die beste Möglichkeit für die betriebliche Interessenvertretung, klare Regeln und standardisierte Abläufe zu schaffen. Für die Überlastungsanzeige bedeutet das konkret, dass folgende Punkte in der Betriebsvereinbarung geregelt sein sollten:

  • Form der Überlastungsanzeige mit Formularvorlage, die jeder Beschäftigte verwenden kann
  • Anforderungen an den Inhalt der Anzeige (konkrete Beschreibung der Situation)
  • Recht des Betriebsrats auf Kopie der Anzeige
  • Zuständigkeit auf Arbeitgeberseite
  • Ablauf/Prozess: eventuell mit Vorstufen und Frühwarnsystem, zeitliche Vorgaben, zu beteiligende Personen (Arbeitgeber, Mitglied des ASA, Gremiumsmitglied etc.)
  • Verpflichtung des Arbeitgebers nach Übermittlung der Anzeige: Was muss er bis wann tun? Wer überprüft, ob die Maßnahmen umgesetzt wurden und vor allem auch, ob sie wirksam sind?
  • Recht des Arbeitnehmers auf Hinzuziehung und Begleitung durch ein Betriebsratsmitglied

Der große Vorteil einer Betriebsvereinbarung liegt neben dem feststehenden Ablauf auch darin, dass sich Kollegen dann erfahrungsgemäß häufiger trauen, ihr Schweigen zu brechen und eine Überlastungsanzeige schreiben. Aber Achtung: Wenn Sie sich mit dem Arbeitgeber nicht auf eine Betriebsvereinbarung einigen können, sollten Sie die Kollegen dennoch ermutigen, Überlastungsanzeigen zu verfassen, falls erforderlich.

Sensibilisieren Sie die Beschäftigten

Eine Betriebsvereinbarung hilft, Beschäftigte im Fall der Fälle zur Überlastungsanzeige zu ermutigen. Dennoch haben viele Arbeitnehmer Bedenken hinsichtlich dieses Schritts. Für den Betriebsrat ist es daher ratsam, das Thema offen anzusprechen und die Belegschaft dafür zu sensibilisieren. Nicht wenige haben Angst, dann Anfeindungen des Arbeitgebers ausgesetzt zu sein oder bloßgestellt zu werden. Andere wiederum haben die Erfahrung gemacht, dass angesprochene Missstände sowieso nicht behoben werden und sich der Aufwand daher gar nicht lohnt. Beiden Befürchtungen lässt sich nur durch eine breit angelegte Informationsoffensive des Betriebsrats der Wind aus den Segeln nehmen.

Haftungsausschluss für den Anzeigenden

Wichtig ist im Zusammenhang mit der Informationskampagne, die Kollegen darüber aufzuklären, dass eine Überlastungsanzeige für sie einen grundsätzlichen Haftungsausschluss zur Folge hat. Denn dadurch verlagert sich die Verantwortung des anzeigenden Arbeitnehmers auf die Vorgesetzten,
d. h., falls ein Schaden eintritt, kann der Arbeitnehmer dafür grundsätzlich nicht belangt werden. Dies kann nicht deutlich genug betont werden, denn die Schadensersatzforderungen oder im schlimmsten Fall strafrechtlichen Konsequenzen können erheblich sein. Dies sollten Sie den Kollegen bewusst machen.

Verpflichtung zur Überlastungsanzeige

Wichtig zu wissen: Der Beschäftigte ist nicht nur aufgrund seiner arbeitsvertraglichen Nebenpflicht verpflichtet, den Arbeitgeber auf drohende Sach- und/oder Gesundheitsschäden hinzuweisen, sondern auch auf der Grundlage von §§ 15 und 16 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Obwohl er mit der Anzeige aus der Haftung entlassen wird, muss der Arbeitnehmer jedoch weiter grundsätzlich seine Arbeitsleistung weisungs- und sorgfaltsgemäß erbringen. Denn eine Überlastungsanzeige berechtigt nie zu pflichtwidrigem Handeln.

Arbeitgeber in der Pflicht

Reagiert der Arbeitgeber nicht, vernachlässigt er die Fürsorgepflicht nach § 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dagegen können Betroffene vor Gericht klagen. Allerdings wäre der erste Schritt, dass der Beschäftigte das Gespräch mit dem Vorgesetzten sucht, am besten unterstützt von einem Mitglied des Betriebsrats. Das schützt den Kollegen davor, von der Führungskraft wegen der Überlastungsanzeige unter Druck gesetzt zu werden. Einige Vorgesetzte möchten das Problem lieber totschweigen und können im Extremfall dem Arbeitnehmer sogar negative Konsequenzen androhen. Betriebsräte sollten den Arbeitgeber (und die Beschäftigten) ausdrücklich darauf hinweisen, dass Beschäftigte nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht haben, eine Überlastungsanzeige zu formulieren.

Großes Handlungsfeld für den Betriebsrat

Überlastungsanzeigen (und auch nur die Diskus­sion über deren Notwendigkeit) sollte das Gremium zum Anlass nehmen, sich offensiv den von Personalmangel, ausufernder Arbeitszeit sowie zu hohen (psychischen) Belastungen verursachten Problemen zu stellen.

Autor*in: Silke Rohde (ist Rechtsanwältin & Journalistin sowie Chefredakteurin des Fachmagazins Betriebsrat KOMPAKT.)