14.04.2021

Rufbereitschaft und Anerkennung als Arbeitszeit

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen. Zeiten in Form von Rufbereitschaft fallen auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“, wenn die ihm während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeiten erheblich beeinträchtigen, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten. Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, unerheblich (EuGH Rechtssache C-580/19 vom 9.3.2021).

Arbeitszeit

Wann wird Rufbereitschaft als Arbeitszeit gewertet?

Ein Beispiel aus der Praxis

Ein Beamter der Stadt Offenbach am Main war als Feuerwehrmann tätig. Neben seiner regulären Dienstzeit musste er regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser Zeiten war er zwar nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Dienstherrn bestimmten Ort aufzuhalten. Aber er musste ständig erreichbar und in der Lage sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen.

Was wollte der Feuerwehrmann?

Der Beamte war der Ansicht, dass seine in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftszeiten aufgrund der mit ihr verbundenen starken Einschränkungen in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten seien, unabhängig davon, ob er während dieser Zeiten tatsächlich tätig war. Er erhob Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt, nachdem der Dienstherr seinem Antrag nicht entsprochen hatte. Das Verwaltungsgericht legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Welche Auffassung hat der EuGH?

Der Gerichtshof wies einleitend darauf hin, dass die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sei, da beide Begriffe einander ausschließen würden. Außerdem stelle eine Zeitspanne, in der ein Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeit für seinen Arbeitgeber ausübe, nicht zwangsläufig eine „Ruhezeit“ dar.

In der Pressemitteilung teilt der EuGH u. a aus seiner Rechtsprechung mit, dass eine Bereitschaftszeit automatisch als „Arbeitszeit“ einzustufen ist, wenn der Arbeitnehmer während dieser Zeit verpflichtet ist, an seinem Arbeitsplatz, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, zu bleiben und sich dort seinem Arbeitgeber zur Verfügung zu halten.

Einschränkungen beeinträchtigen die Freizeit erheblich

Nach diesen Klarstellungen entschied der Gerichtshof, dass Bereitschaftszeiten, einschließlich Zeiten in Form von Rufbereitschaft, auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen, wenn die dem Arbeitnehmer während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.

Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden können, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden.

Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, unerheblich. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.

Nationale Gerichte müssen den Einzelfall prüfen

Der Einzelfall muss besonders gewürdigt werden. Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist; dies ist nämlich, wenn keine Verpflichtung besteht, am Arbeitsplatz zu bleiben, nicht automatisch der Fall. Zu diesem Zweck ist zum einen zu berücksichtigen,

  • ob die Frist sachgerecht ist, innerhalb derer der Arbeitnehmer nach der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber die Arbeit aufzunehmen hat, wozu er sich in der Regel an seinen Arbeitsplatz begeben muss. Die Folgen einer solchen Frist sind jedoch anhand des konkreten Falls zu beurteilen.
  • Bei dieser Beurteilung sind nicht nur weitere dem Arbeitnehmer auferlegte Einschränkungen wie die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, zu berücksichtigen, sondern auch
  • ihm gewährte Erleichterungen. Solche Erleichterungen können beispielsweise in der Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs bestehen, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden kann.

Zum anderen müssen die nationalen Gerichte die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze berücksichtigen, sofern insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.

Wie sieht es mit der Vergütung aus?

Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass die Art und Weise der Vergütung von Arbeitnehmern für Bereitschaftszeiten nicht der Richtlinie 2003/88 unterliegt. Sie steht daher der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des Arbeitgebers nicht entgegen, wonach bei der Vergütung Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen sind. Umgekehrt steht es der Richtlinie 2003/88 ebenfalls nicht entgegen, wenn Bereitschaftszeiten, die nicht als „Arbeitszeit“ eingestuft werden können, in Form der Zahlung eines zum Ausgleich der dem Arbeitnehmer durch sie verursachten Unannehmlichkeiten dienenden Betrags vergütet werden.

Arbeitgeber muss seiner Fürsorgepflicht nachkommen

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass die Einstufung einer nicht als „Arbeitszeit“ anzusehenden Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ die besonderen Pflichten unberührt lässt, die den Arbeitgebern nach der Richtlinie 89/3912 obliegen. Insbesondere dürfen die Arbeitgeber keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig sind, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer darstellen, unabhängig davon, ob sie als „Ruhezeiten“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind.

Autor*in: Werner Plaggemeier (langjähriger Herausgeber der Onlinedatenbank „Personalratspraxis“)