Betriebsrats-Check: Psychologische Erste Hilfe
Dass für medizinische Notfälle Ersthelfer zur Verfügung stehen, ist in den meisten Betrieben eine Selbstverständlichkeit. Angesichts von möglichen psychisch stark belastenden Extremereignissen an Arbeitsplätzen sollten diese Ersthelfer allerdings auch psychologisch geschult sein, um durch stützende Maßnahmen potenzielle Traumatisierungen zu verhindern. Dazu müssen den Ersthelfern die grundlegenden Gefährdungen und einfache Schutzmaßnahmen, aber auch die Grenzen ihres Auftrages bekannt sein.
Die Unterweisung in psychologischer Erster Hilfe muss sensibel erfolgen. Sind keine besonderen Gefährdungen durch Extremereignisse gegeben, sollten auch die Unterweisungen keine übermäßig psychologischen Elemente enthalten, um Überdruss durch gefühlte „Überpsychologisierung“ zu vermeiden. In folgenden Situationen liegen häufig psychische Gefährdungen durch Extremereignisse am Arbeitsplatz vor:
- Raubüberfälle
- Patientenübergriffe im Gesundheitsbereich
- Übergriffe in Behörden und Ämtern
- Unfälle in Freizeiteinrichtungen
- Sonstige Unfälle
Extremereignisse müssen in streng subjektiver Sicht definiert sein. So kann auch ein verbaler Übergriff oder eine sexualisierte Bemerkung aus Sicht der betroffenen Person ein Extremereignis sein.
Die Lage verschärft sich, wenn Beschäftigte wegen des Ereignisses um ihre Arbeitsplätze fürchten müssen, etwa bei Kraftfahrern durch einen drohenden Entzug der Fahrerlaubnis. Bei der Risikobewertung sind diese Einschätzungen nötig: Stärke, Intensität und Ausmaß eines Geschehnisses.
Erlebt und miterlebt
Allzu oft konzentriert sich die psychologische Ersthilfe auf Personen, die Extremereignisse erlebt haben und direkt davon betroffen sind. Doch auch miterlebte Geschehnisse können Menschen psychisch gefährden. Ersthelfer sollen deshalb neben den direkt Betroffenen stets auch Personen im Blick behalten und ggf. betreuen, die Augen- und Ohrenzeugen eines Extremereignisses wurden oder sich im Umfeld aufgehalten haben.
Eignung von Ersthelfern
Da in der Regel die bereits medizinisch ausgebildeten Ersthelfer in psychologischer Ersthilfe fortgebildet werden, gibt es oft zunächst Vorbehalte: „Kann ich das überhaupt?“, ist häufig die Frage. Die Ergebnisse solcher Schulungen zeigen aber, dass die meisten Betroffenen über Achtsamkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft verfügen und sich zugewandt verhalten können. Sie sollten mit Stress gut umgehen (und vor allem in Krisensituationen handlungsfähig bleiben) können sowie bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Diese Eigenschaften gelten nicht nur für den psychologischen Teil einer Ersthilfe, sondern auch für den medizinischen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass Ersthelfer nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Hilfe leisten können.
Geben Sie in den Unterweisungen den Grundsatz aus: „Nur wer gut für sich selbst sorgen kann, ist ein guter Ersthelfer.“ Deshalb ist es nicht nur für die Helfer wichtig, psychisch stabil zu sein. Vielmehr müssen sie im Einsatz „funktionieren“, dürfen keine Fehlentscheidungen treffen und nicht zur Belastung für andere werden.
Wie sich Ersthelfer selbst schützen
Ersthelfer stehen in akuten Extremsituationen wie z. B. nach Unfällen mitten im Geschehen und sind deshalb als Miterlebende stark von den Ereignissen betroffen. Daher ist es für sie wichtig, sich selbst bei der Bewältigung solcher Erfahrungen schützen zu können. Dazu müssen sich Ersthelfer zunächst einschätzen: Welche Vulnerabilität (Verletzlichkeit) gegenüber Extremreaktionen liegt vor? Um das zu bewerten, sollen die Ersthelfer versuchen, sich an Extremereignisse aus ihrem bisherigen Leben zu erinnern: Wie haben sie damals reagiert? Ging es ihnen anschließend schlecht? Auch Verarbeitungsmechanismen können auf diese Weise thematisiert werden: Was hat den Ersthelfern damals geholfen, die Situation gut zu verarbeiten?
Grundwissen vermitteln
Im zweiten Schritt ist es wichtig, psychologisches Grundwissen zu vermitteln und zu unterweisen, wie Extremereignisse auf die Psyche von Menschen einwirken können und welche Folgen das haben kann (z. B. Trauma, Depression, Ängste). Das Krankheitsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung und ihre Auswirkungen nicht nur auf die Arbeitsfähigkeit, sondern auch auf die privaten Lebensumstände sollen konkret dargestellt werden. Dieses Grundwissen ist nicht nur sinnvoll für eine zu leistende psychologische Erste Hilfe. Vielmehr ist das Wissen um die Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung auch ein Schutzfaktor vor einer Erkrankung.
Internet-Tipp
Die DGUV hat den DGUV Grundsatz 306-001 „Traumatische Ereignisse“ unter https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3228 bereitgestellt.
Den Auftrag erklären
Klären Sie in den Unterweisungen, wie der Auftrag eines Ersthelfers in psychologischer Hinsicht genau aussieht. Zunächst geht es darum, Betroffene zu identifizieren und aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu bringen sowie eintreffende Notfallmediziner auf diese Personen aufmerksam zu machen. Da anders als körperlich Verletzte psychisch beeinträchtigte Personen häufig „einfach nach Hause“ möchten, ist ferner sicherzustellen, dass nach dem Verlassen des Gebäudes Angehörige oder Freunde für diese Personen da sind. Auch an den Folgetagen sollen entweder die Ersthelfer oder andere damit Beauftragte sich um die Betroffenen kümmern, beispielsweise im Betrieb nachfragen, wie es geht. Erfolgt eine Krankmeldung oder erscheinen Betroffene unentschuldigt nicht am Arbeitsplatz, soll mit erhöhter Intensität versucht werden, sie zu erreichen. Gegebenenfalls soll die betroffene Person an ihrem Wohnsitz besucht werden, um zu klären, ob es ihr gut geht und ob sie die notwendige Unterstützung hat.
Checkliste zur Nachbearbeitung
Wenn medizinische und/oder psychologische Erste Hilfe geleistet wurde, stellen Sie den Betroffenen, aber auch den Ersthelfern einen Tag nach dem Einsatz diese Fragenliste zur Selbstbeobachtung zur Verfügung:
- Ich bin nach dem Ereignis immer noch sehr angespannt.
- Gelegentlich verschwimmt vor meinen Augen alles.
- Ich fühle mich traurig, als ob ich gleich in Tränen ausbrechen würde.
- Ich fühle mich ängstlich.
- Ich fühle mich schlapp und erschöpft.
- Insgesamt fühle ich mich zittrig bzw. Knie, Hände oder die Stimme sind zittrig.
- Mein Hals fühlt sich eng an, ich habe Schwierigkeiten zu sprechen.
- Ich fühle mich in der Magengegend flau.
- Ich habe gelegentlich Herzrasen.
- Ich bekomme Schweißausbrüche.
- Ich habe Beklemmungen beim Atmen.
- Ich fühle mich schwindlig.
- Es treten Kopf- und/oder Magenschmerzen auf.
Wenn auf eine oder mehrere dieser Fragen mit „Ja“ geantwortet wird, sollen die Betroffenen sich um psychologische Unterstützung bemühen.
Handlungsgrenzen vermitteln
Zur Erläuterung des Auftrags gehört es auch, zu vermitteln, wo die Handlungsgrenzen liegen. Dazu zählt insbesondere die Feststellung, dass Ersthelfer keine psychologischen Fachkräfte sind. Deshalb bleibt es den Notfallmedizinern überlassen, zu entscheiden, ob eine psychisch verletzte Person nach Hause gehen kann oder ob sie zur Beobachtung in ärztliche Obhut genommen wird. Auch wenn die Ersthelfer sich im Anschluss um ihre Schützlinge kümmern sollen, soll dies nicht ohne Absprache mit dem BGM-Team bzw. mit der Personalabteilung geschehen. Eine Fachbegleitung muss gewährleistet sein. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil es im Nachgang zu Extremereignissen zu einer Suizidalität der Betroffenen kommen kann, die die Ersthelfer schnell überfordern würde.
Geeignete Räume zur Verfügung stellen
Ersthelfer sind bei Extremereignissen angehalten, Betroffene und Beobachtende aus der Situation herauszunehmen und sie in eine sichere und ruhige Umgebung zu bringen, bis sie von Fachpersonal untersucht werden können. In den Unterweisungen sollte deshalb dargestellt werden, wo solche Schutzräume vorhanden sind. Dabei gilt, dass nach Möglichkeit für jede betroffene Person ein eigener Raum zur Verfügung stehen soll. Entsprechend sollen im Ernstfall Beschäftigte ihre Büroräume zur Verfügung stellen bzw. Ersthelfer die Mitarbeitenden auffordern, dies zu tun. Die Räumlichkeiten sollen keinen Bezug zu dem Ort haben, an dem das Extremereignis passiert ist.
Angehörige verständigen und informieren
Auch wenn Betroffene den Arbeitsplatz und die Betreuung innerhalb des Unternehmens verlassen haben, sollten sie nicht allein sein. Dies gilt selbst für Personen, die zunächst keine Symptome zeigen und sagen, dass es ihnen gut geht. Wer Extremereignisse erlebt oder miterlebt hat, sollte gefragt werden, ob sie oder er von Angehörigen abgeholt und nachbetreut werden kann. Diese Angehörigen sollten zumindest kurz über das Geschehen und die möglichen psychischen Auswirkungen informiert werden sowie Kontaktdaten von Notdiensten erhalten, die bei später auftretenden Belastungen unterstützen können. Zur weiteren Unterstützung bei der Verarbeitung des Extremereignisses sollte es ein Ritual geben. Dies kann etwa in Form eines Glückwunschalbums geschehen, in das die Kolleginnen und Kollegen von Verletzten oder Erkrankten ihre Wünsche und Gedanken schreiben können. Bei Verstorbenen kann es entsprechend ein Kondolenzalbum sein, das den Angehörigen überreicht wird.
Psychologischen Notfallkoffer bereitstellen
Auch im psychologischen Bereich sollte es für Extremereignisse einen Notfallkoffer geben. Dieser enthält beispielsweise Papiertaschentücher, Schokolade und Traubenzucker, einfache Kurzgeschichten oder Spielzeug (bei Kindern) zum Ablenken, Isolierdecken und Wasser oder Cola mit Zucker.