Betriebsrats-Check Präsentismus: Krank am Arbeitsplatz
Streber nannte man sie früher: Menschen, denen der Job über alles geht. Präsentismus meint jene, die aus Furcht um ihren Job sogar krank zur Arbeit gehen – und sei es um den Preis, die Gesundheit der anderen zu gefährden. Sie als Betriebsrat sollten hier sogar die Flöhe husten hören.
Präsentismus? Woran lässt er sich festmachen?
Zunächst an den Fehltage von Beschäftigten. Sie sind im Sinkflug. Die Techniker Krankenkasse (TK) hat das untersucht. Eine Vorabauswertung des TK-Gesundheitsreports 2022 auf Grundlage der rund 5,5 Millionen bei der TK versicherten Erwerbstätigen (Berufstätige und Empfänger von Arbeitslosengeld 1, Stand Januar 2022) zeigt:
- Der Krankenstand der bei ihr versicherten Erwerbspersonen 2021 war mit 3,97 Prozent so niedrig wie seit acht Jahren nicht mehr.
- Das ist nochmal ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum ersten Coronajahr 2020 mit einem Krankenstand von 4,13 Prozent.
- Vor acht Jahren (2013) befand sich der Krankenstand mit 4,02 Prozent das letzte Mal auf so niedrigem Niveau.
- Damit war im Schnitt jede bei der TK versicherte Erwerbsperson im vergangenen Jahr 14,5 Tage krankgeschrieben.
- Im Jahr 2020 waren es noch 15,1 Tage
- 2019: 15,4 Tage
- 2018: 15,5 Tage.
Der Fehlzeiten-Report 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt, dass fast jedes Siebte (13,2 Prozent) der befragten AOK-Mitglieder entgegen dem Rat des Arztes krank zur Arbeit gegangen ist. Und laut einer Befragung des AOK-Bundesverbandes ist besonders die Pflegebranche betroffen: Unter den Führungskräften in der Pflege sind in den vergangenen zwölf Monaten 36 Prozent krank arbeiten gegangen.
Hat Corona sich ausgewirkt?
Kaum. „Bereits im ersten Coronajahr 2020 haben wir einen starken Rückgang der Krankschreibungen im Vergleich zu den Vorjahren festgestellt“, erklärt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK. Im Jahresverlauf des Pandemiejahres 2021 hat die Kasse im November mit 4,89 Prozent den höchsten Wert des Jahres verzeichnet. In Zeiten wie der Corona-Krise zeigt sich aber ein negativer Aspekt des Präsentismus ganz deutlich: Wer krank zur Arbeit geht, bringt immer das Risiko der Ansteckung mit an den Arbeitsplatz.
Als Hauptgrund dafür sieht Baas deutlich weniger Krankmeldungen aufgrund nicht von Corona, sondern von Erkältungskrankheiten – wie schon im Vorjahr. So fehlte den TK-Angaben zufolge jede Erwerbsperson
- 2021 durchschnittlich nur 1,64 Tage aufgrund von Grippe und Co.
- 2020 noch 2,30 Tage
- 2019: 2,37
- 2018: 2,55.
„Das zeigt, dass die Abstands- und Hygieneregeln nach wie vor sehr wirksam sind“, so der TK-Chef.
Aber: Mit gut 37.625 Krankschreibungen gab es eine deutliche Zunahme bei den Fehltagen aufgrund einer Covid-19-Diagnose. Im letzten Jahr waren es noch 26.833. Insgesamt verzeichnete die TK im Jahr 2021 rund 5,13 Millionen Krankschreibungen.
Den Spitzenplatz bei den Krankmeldungen nehmen
- mit 21,8 Prozent zum vierten Mal in Folge die Fehlzeiten aufgrund psychischer Diagnosen ein,
- gefolgt von Erkrankungen des Muskelskelettsystems mit 18,4 Prozent
- noch vor den Krankheiten des Atmungssystems mit einem Anteil von 11,3 Prozent.
Woran liegt es?
Über die Gründe dafür besteht Uneinigkeit:
- Sind die Arbeitnehmer heute gesünder und werden einfach seltener krank?
- Arbeiten sie trotz Krankheit?
- Aus falsch verstandenem Pflichtgefühl?
Tatsächlich wecken die Zahlen die Sorge, dass Beschäftigte krank zur Arbeit kommen, also Präsentismus praktizieren. Sie fürchten, sonst ihren Job zu verlieren. Generell sind sich Experten weitgehend darüber einig, dass ein niedriger beziehungsweise sinkender Krankenstand nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich die Gesundheit der Beschäftigten verbessert hat. Ein sinkender Krankenstand kann mit einem steigenden Leistungsdruck im Unternehmen einhergehen und ist dann kein gutes Signal.
Die „iga.Fakten“ haben das vielschichtige Phänomen des Präsentismus unter die Lupe genommen. Die Ursachen sind demzufolge vielfältig:
- Arbeitsbezogen:
- hohe Anforderungen an Arbeitsmenge und -zeit,
- persönliche Konflikte
- Übernahme von Führungsaufgaben.
- Personenbezogen:
- Hohe Arbeitszufriedenheit
- emotionale Bindung an die Organisation
- hohes Arbeitsengagement
- Organisationsbezogen:
- Vorerfahrungen mit Diskriminierung,
- Angst um den Arbeitsplatz
- strikte Anwesenheitspolitik.
Präsentismus: Ursachen und Gegenstrategien |
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Überhöhtes Verantwortungsgefühl | Beschäftigte sollen wissen, dass die Führungskraft bei krankheitsbedingtem Ausfall für Ersatz bzw. für die Erledigung der Aufgaben sorgen muss. |
Falsch verstandene Kollegialität | Wer krank ist, kann keine wirkliche Hilfe sein und setzt die Kollegen unter Druck, ebenfalls krank zu arbeiten. Dies sollte die Arbeitgeberseite klar kommunizieren. |
Angst vor Arbeitsplatzverlust | Irreguläre Beschäftigungsverhältnisse gilt es zu vermeiden und es sollte früh geklärt werden, ob Auszubildende übernommen werden. |
Bestehende Probleme | Wer bereits psychische oder physische Probleme hat, will vermeiden, aufzufallen. |
Vermeintliche Normalität | Bei dauerhafter Überlastung verlieren die Beschäftigten das Gefühl für ihre Belastungsgrenzen. Hier hilft es, wenn der Betrieb Grenzen setzt (z.B. keine E-Mail-Bereitstellung zwischen 18:00 und 7:00 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen). |
Führungskräfte machen Druck | Ermutigen Sie die Beschäftigten, sich in solchen Fällen an den Betriebsrat zu wenden. |
Welche Rolle spielt der Arbeitgeber bei Präsentismus?
Schlüsselfaktoren für eine höhere Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten ist der TK-Studie zufolge zweierlei:
- eine gute, wertschätzende Führung sowie
- die Möglichkeit, Einfluss auf die eigene Arbeit nehmen zu können.
Das zeigt eine Langzeitstudie des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG) im Auftrag der TK mit 11.000 Beschäftigten aus 43 Unternehmen. Fast sechs von zehn Befragten geben dabei an, ihre Aufgaben oft oder immer selbst beeinflussen zu können. Das heißt aber zugleich: Vier von zehn können dies nur manchmal, selten oder sogar nie.
„Auch beim Thema Führung gibt es für die Unternehmen noch Potenzial“, sagt Dr. Utz Niklas Walter, Leiter des IFBG:
- 40 Prozent der Befragten bekommen nie, fast nie oder selten von ihren Führungskräften Feedback zur Qualität ihrer Arbeit,
- rund 30 Prozent erfahren für ihre Arbeit wenig Wertschätzung vom Management oder der Führungskraft.
„Eine gesunde Feedbackkultur ist sehr wichtig für Leistung und Motivation. Hier ist es aber zu einfach, nur die Führungskräfte zu kritisieren, von denen viele einen tollen Job machen. Als Beschäftigter sollte ich Feedback bewusst einfordern“, so Walter. Wertschätzung trägt ihm zufolge dazu bei, dass Arbeitnehmer ihre Arbeit als sinnstiftend empfinden. Walter: „Wir sehen in den Ergebnissen, dass diese Führungsfaktoren Beschäftigte nicht nur zufriedener machen, ihr Gesundheitszustand ist besser.“
Baas zufolge investieren viele Unternehmen bereits in ein gesundes Arbeitsumfeld ihrer Beschäftigten. Er sehe aber noch Möglichkeit zu weiteren Verbesserungen in dieser Hinsicht. Er hält es für wichtig, dass die Strategien der Unternehmen zur sich verändernden Arbeitswelt passen. Außerdem seien die Beschäftigten selbst gefragt, Angebote einzufordern, zu nutzen und sich um ihre Gesundheit zu kümmern. Die Firma Ipetronik aus Baden-Baden mit rund 250 Mitarbeitern, spezialisiert unter anderem auf digitale Messtechnik in der Automobilindustrie, ist im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements das Thema Führung mit einem Entwicklungsprogramm angegangen. Im Vordergrund stand dabei:
- ein gemeinsames Führungsbild,
- mehr Eigenverantwortung und
- eine wertschätzende Kommunikation.
Mit Hilfe der Befragungsergebnisse geht das Unternehmen weitere Schmerzpunkte bei den Beschäftigten an, um Angebote zu unterbreiten, die zu ihnen passen. Nicht jeder kann und möchte in seinen Berufsalltag eine bewegte Pause integrieren, dann braucht es andere Ideen, wie man das Thema Bewegung und gesunde Arbeitshaltung angeht.“ Wenn Arbeitnehmer trotz Krankheit arbeiten, könne das nicht nur für sie selbst negative Folgen haben, sondern auch für das Unternehmen, ist Baas überzeugt:
- Krankheiten werden verschleppt,
- Kollegen angesteckt,
- es passieren mehr Fehler.
- Baas: „Es reicht nicht, als Unternehmen nur auf Fehlzeiten zu schauen. Zu einem zukunftsfähigen Betrieblichen Gesundheitsmanagement gehört der Blick auf Themen wie Präsentismus – ganz besonders in Zeiten von mehr Homeoffice und flexiblen Arbeitsmodellen.“
Laut iga.Fakten besteht die beste Prävention von Präsentismus in einer wertschätzenden, sicheren und gesunden Unternehmenskultur. In einer solchen hat die Gesundheit der Arbeitnehmer einen hohen Stellenwert und gilt als Voraussetzung dafür, alle weiteren Unternehmensziele zu erreichen. Unternehmen, die das erkannt haben, überprüfen auf langfristigen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten zum Beispiel:
- Arbeitszeitregelungen
- Gratifikationssystem
- Führungsgrundsätze.
Was sind besonders für Präsentismus anfällige Gruppen?
Die Praxis zeigt, dass bestimmte Tätigkeiten und Faktoren Präsentismus begünstigen, wie z.B.:
- Pflege- und Gesundheitsberufe: Beschäftigte haben oft persönliche Beziehungen zu den zu pflegenden Personen.
- Außendienst und alle Tätigkeiten mit erfolgsabhängiger Bezahlung: Krankheit kann zu Verdienstausfall führen.
- Fehlende Vertretungsregelungen: Wer weiß, dass die Arbeit liegenbleibt, wird eher krank zur Arbeit erscheinen als jemand, der darauf vertrauen kann, dass die Arbeit in seiner Abwesenheit gut erledigt wird.
Ohnedies überbelastete Beschäftigte gefährden ihre Gesundheit zusätzlich durch Präsentismus.
Wie verbreitet ist Präsentismus?
Sehr verbreitet. Etwa die Hälfte der Befragten der IFBG-Langzeitstudie findet es richtig, trotz Erkrankung weiterzuarbeiten:
- Unabhängig von ihrem Gesundheitszustand zur Arbeit erscheinen zu müssen meinen:
- 56 Prozent aller weiblichen
- 47 Prozent aller männlichen Beschäftigten.
- Besonders betroffen von Präsentismus sind Beschäftigte:
- Etwa 33 Prozent machen häufig Überstunden
- Rund 40 Prozent fühlen sich durch die Arbeitsmenge überfordert.
Die Studie nimmt ausdrücklich keinen Bezug auf die Sonderfaktoren der Pandemie. Unabhängig davon besteht eine hohe Neigung, auf Kosten der eigenen Gesundheit und nicht selten wie z.B. bei Infektionen auf die der Gesundheit von Kollegen in die Arbeit zu gehen.
Ist Präsentismus nur schlecht?
Eigentlich haben Ismen generell einen Hang dazu schlecht zu sein. Gerade bei psychischen Erkrankungen kann ein Verhalten stabilisierend wirken, bei dem der Arbeitnehmer trotzdem zur Arbeit geht. Vielleicht sollte man es dann nicht mit dem negativ besetzten Wort Präsentismus bezeichnen. Erscheint der Arbeitnehmer trotz seiner psychischen Erkrankung zur Arbeit, so kann dadurch seine Tagesstruktur erhalten bleiben. Wenn Ihnen als Betriebsrat Kolleginnen oder Kollegen mitteilen, dass ihnen trotz ihrer Erkrankung der Gang in den Betrieb oder die Arbeit im Home-Office guttut, sollten Sie ihnen das nicht ausreden oder gar verwehren. Es hilft womöglich, die Krankheit zu überwinden und danach wieder normal zur Arbeit zu erscheinen.
Was können Sie als Betriebsrat gegen Präsentismus in Ihrem Betrieb tun?
- Sorgen Sie dafür, dass Ihr Unternehmen mehr Personal einstellt! Die Bekämpfung des Präsentismus steht und fällt mit der Personalausstattung.
- Beobachten Sie die Entwicklung der Überstunden! Sie sind ein Schlüsselindikator. Je mehr anfallen, desto sicherer ist offensichtlich zu wenig Personal da.
- Lassen Sie als Betriebsrat sich von der Personalabteilung Zahlen zu Überstunden geben, aufgeschlüsselt nach Fachbereichen oder Betriebsteilen!
- Fragen Sie die betroffenen Beschäftigten nach ihrer individuellen Arbeitsbelastung!
- Versuchen Sie als Betriebsrat, mit dem Arbeitgeber über Maßnahmen zur Reduzierung von Überstunden zu verhandeln!
- Überprüfen Sie, ob die Vorschriften zur Arbeitszeit eingehalten werden!
- Vergewissern Sie sich, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen ausreichend Pausen nehmen!
- Als Betriebsrat sollten Sie darauf achten, dass Anwesenheitsprämien nicht einen Präsentismus bei Ihren Arbeitnehmern begünstigen!
- Schreiten Sie als Betriebsrat zeitig dagegen ein – auch wenn man Ihnen vorwerfen sollten, die Flöhe husten zu hören. Better early than never!