BAG bremst Betriebsparteien aus: Tarifvertrag sperrt Betriebsvereinbarung
Auch das BAG ist von der Corona-Krise betroffen. Am 18.03. fand bis auf Weiteres die letzte mündliche Verhandlung in Erfurt statt. In dem letzten Verfahren vor der Corona-Pause entschieden die Bundesrichter, dass die tarifliche Vergütungspflicht von Fahrtzeiten nicht durch eine Betriebsvereinbarung eingeschränkt werden kann.
Worum geht es?
Mitbestimmung. Ein Arbeitnehmer ist in einem Unternehmen als Servicetechniker im Außendienst tätig. Der Arbeitgeber ist tarifgebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden die Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers Anwendung. In einer Betriebsvereinbarung (BV) von 2001 ist in § 8 geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zur Arbeitszeit zählen, sofern sie 20 Minuten nicht überschreiten. Sofern An- und Abreise länger als jeweils 20 Minuten dauern, zählt die 20 Minuten übersteigende Fahrtzeit zur Arbeitszeit. In das für den Arbeitnehmer geführte Arbeitszeitkonto hat der Arbeitgeber Reisezeiten von dessen Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause bis zu einer Dauer von jeweils 20 Minuten nicht als vergütungspflichtige Arbeitszeiten eingestellt. Damit war der Arbeitnehmer nicht einverstanden. Er klagte auf Gutschrift von Fahrtzeiten für März bis August 2017 im Umfang von knapp 69 Stunden auf sein Arbeitszeitkonto. Der Arbeitgeber beantragte Klageabweisung. Er meinte, ein solcher Anspruch sei durch § 8 BV wirksam ausgeschlossen.
Das sagt das Gericht
Das BAG gab dem Arbeitnehmer Recht. Mit den Fahrten von seiner Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück erfülle er seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung. Ein daraus resultierender Vergütungsanspruch werde durch § 8 BV nicht ausgeschlossen. Die Bestimmung regele die Vergütung der Arbeitszeit, indem sie die An- und Abfahrtszeiten zum ersten bzw. vom letzten Kunden – soweit sie 20 Minuten nicht übersteigen – von der Vergütungspflicht ausschließe. § 8 BV betreffe somit einen tariflich geregelten Gegenstand. Laut dem anwendbaren Manteltarifvertrag (MTV) seien jedoch sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringe, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Dazu gehöre bei Außendienstmitarbeitern die gesamte für An-und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Da der MTV keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthalte, sei § 8 BV wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. BAG, Urteil vom 18.03.2020, Az.: 5 AZR 36/19
Das bedeutet für Sie als Betriebsrat
Als engagiertes Betriebsratsmitglied wissen Sie, dass Arbeitsentgelte, die durch Tarifvertrag geregelt sind, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Dies besagt die sogenannte Tarif- bzw. Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Ist der Arbeitgeber tarifgebunden und regelt ein Tarifvertrag – wie im Eingangsfall – die Vergütung für geleistete Arbeit auch in Bezug auf Fahrtzeiten der Außendienstmitarbeiter abschließend, so besteht gemäß § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.
Das sind die Folgen für die Praxis
Das Urteil des BAG hat gravierende Auswirkungen auf Unternehmen mit Außendienstmitarbeitern und Servicetechnikern. Vielen Arbeitgebern sind die für sie kostspieligen An- und Abfahrtszeiten ein Dorn im Auge. Da den Kunden oft nur eine Anfahrtspauschale in Rechnung gestellt werden kann, wollen Arbeitgeber die An- und Abfahrtszeiten von einer Vergütungspflicht ausnehmen. Die wenigsten Betriebsratsgremien sind jedoch dazu bereit, das Risiko langer Anfahrtszeiten auf die Beschäftigten abzuwälzen. Als Kompromiss handeln die Betriebsparteien häufig betriebliche Regelungen wie im Eingangsfall aus. Ein Teil der An- und Abfahrt wird vergütet, der andere Teil nicht. Solche Regelungen dürften mit dem BAG-Urteil Geschichte sein (vgl. Praxistipp).
Praxistipp: Betriebsvereinbarungen überprüfen
In Unternehmen, in denen derartige Regelungen bestehen, sollten sich Betriebsrat und Arbeitgeber zeitnah zusammensetzen und überprüfen, ob eine entsprechende Betriebsvereinbarung ähnliche Einschränkungen wie die vom BAG geprüfte Klausel enthält. Sollte dies der Fall sein, gilt es Abhilfe zu schaffen. Vor dem Hintergrund der klaren Vorgaben des BAG, wonach die Betriebsparteien die Vergütungspflicht von Fahrtzeiten nicht einschränken können, wird vielen Unternehmen nichts anderes übrig bleiben, als die Zusatzkosten auf die Kunden umzulegen, indem Serviceleistungen vor Ort preislich angepasst und Anfahrtspauschalen erhöht werden.