14.06.2020

Arbeitsplatzgrenzwerte und DNEL bzw. DMEL

DNEL-Werte (Derived No-Effect Level – abgeleitete Expositionshöhe, unterhalb derer der Stoff zu keiner Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit führt) wurden als toxikologische Referenzwerte für die Risikobeurteilung der menschlichen Gesundheit durch REACH eingeführt.

Messwert

In der Risikobeurteilung wird die Expositionshöhe mit dem DNEL verglichen. Die Methoden zur Ableitung von DNEL-Werten, wie z.B. die Berücksichtigung von Unsicherheiten, sind in den Leitlinien der ECHA umfangreich beschrieben. Wenn es nicht möglich ist, einen DNEL abzuleiten (z.B. für krebserzeugende Stoffe, für die kein toxikologischer Schwellenwert existiert), verlangt REACH eine qualitative Risikobewertung. Die ECHA empfiehlt in ihren Leitlinien dringend die Ableitung eines DMEL (Derived Minimal-Effect Level), wenn die Datenlage das zulässt. In der REACH-Verordnung selbst ist ein DMEL nicht vorgesehen. Er soll ein Expositionsniveau darstellen, bei dem die Wahrscheinlichkeit, dass ein identifizierter adverser Effekt eintritt, hinreichend gering ist, um keine Besorgnis auszulösen.

Weitere Diskussionen und politische Festlegungen sind erforderlich, um einen harmonisierten Ansatz für die Ableitung von DMEL und das Akzeptanzniveau für Risiken zu erreichen. Auf europäischer Ebene fehlt bisher ein politischer Konsens hierzu. Im Gegensatz zum deutschen „Ampelmodell“ ist unterhalb des DMEL keinerlei Expositionsminimierung vorgesehen. Die beabsichtigte Gleichsetzung von DMEL-Einhaltung und angemessener Risikobeherrschung würde möglicherweise auch die eigentlich geforderte Stoffsubstitution behindern.)

Seit einiger Zeit wird aber auch auf europäischer Ebene die Akzeptanz von Risiken durch Chemikalien diskutiert. Daher hat die Europäische Kommission, Generaldirektion „Internal Market, Industry, Entrepreneurship and SMEs“ zu einem Workshop über „Acceptable level of risk to workers and consumers exposed to carcinogenic substances“ eingeladen: https://ec.europa.eu/growth/content/workshop-acceptable-level-risk-workers-and-consumers-exposed-carcinogenic-substances-0_en. Ob sich aus diesem Workshop allerdings konkrete Änderungen in den Regularien ergeben werden, bleibt abzuwarten.

Nutzung von DNEL/DMEL-Werten für die Risikobeurteilung

Der DNEL (ggf. DMEL) ist vom Registranten im Rahmen seiner Stoffsicherheitsbeurteilung für die Registrierung eines Stoffs zu ermitteln. Dabei sind die wahrscheinlichsten Expositionswege und die wahrscheinlichste Expositionsdauer und -häufigkeit zu berücksichtigen. Ist mehr als ein Expositionsweg wahrscheinlich, muss ein DNEL-Wert für jeden Expositionsweg (oral, durch die Haut, durch Inhalation) bestimmt werden. Es kann auch erforderlich sein, verschiedene DNEL-Werte für jede relevante Bevölkerungsgruppe (z.B. Arbeitnehmer, Verbraucher) und möglicherweise für bestimmte schutzbedürftige Bevölkerungsuntergruppen (z.B. Kinder, Schwangere) zu ermitteln.

DNEL-Werte werden neben der Stoffsicherheitsbeurteilung im Rahmen der Stoffregistrierung auch in anderen REACH-Verfahren (Stoffbewertung, Zulassung, Beschränkung) als Maßstab für die Risikobeurteilung genutzt. Bei Zulassungen und Beschränkungen überprüft der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) DNEL-Werte und stellt auch eigene Werte auf (für Stoffe ohne toxikologische Schwellenwerte stellt der RAC Dosis-Wirkungs-Beziehungen auf). Dies kann zu Unterschieden führen zwischen den Werten, die der RAC ableitet und den Werten, die von Registranten abgeleitet werden. Der RAC nutzt bei der Ableitung von Referenz-DNEL Informationen aus Registrierungsdossiers und öffentlich zugängliche Informationen. Wenn andere Organe bereits relevante Bewertungen abgegeben haben, nutzt der RAC diese für die eigenen Ableitungen.

Die Referenz-DNEL und Dosis-Wirkungs-Beziehungen nutzt der RAC bei der Bewertung von Zulassungsanträgen; sie werden Antragstellern als Referenzwerte für die vorzulegende Risikobewertung im Zulassungsantrag empfohlen. Sie können auch bei der Beurteilung von Beschränkungsvorschlägen genutzt werden. Auch wenn DNEL/DMEL-Werte grundsätzlich nicht als harmonisiert angesehen werden können, solange sie durch Registranten abgeleitet werden, haben sie doch einen quasi-harmonisierten Charakter, wenn sie vom RAC abgeleitet wurden.

Ableitung und Nutzung von Arbeitsplatzgrenzwerten

Arbeitsplatzgrenzwerte nach Gefahrstoffverordnung oder CAD sind Grenzwerte für die zeitlich gewichtete durchschnittliche Konzentration eines chemischen Arbeitsstoffs in der Luft im Atembereich eines Arbeitnehmers in Bezug auf einen gegebenen Referenzzeitraum. Die CAD ermöglicht die Festlegung von Arbeitsplatz-Richtgrenzwerten (sogenannte „indikative“ Arbeitsplatzgrenzwerte) und verbindlichen Arbeitsplatzgrenzwerten (sogenannte „bindende“ Arbeitsplatzgrenzwerte). Außerdem können auch biologische Grenzwerte festgelegt werden. Die CMD ermöglicht die Festlegung von Grenzwerten für solche krebserzeugenden oder reproduktionstoxischen Stoffe, für die das wissenschaftlich möglich ist (d.h. für die ein Schwellenwert existiert).

Arbeitsplatz-Richtgrenzwerte können als „europäische Zielgröße“ angesehen werden und werden auf der Basis von unabhängigen wissenschaftlichen Erkenntnissen durch das „Scientific Committee on Occupational Exposure Limits“ (SCOEL) abgeleitet und anschließend in einem komplexen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet und veröffentlicht. Arbeitsplatz-Richtgrenzwerte stellen eine Luftkonzentration dar, unterhalb derer nach einer kurzzeitigen oder täglichen Exposition für die Lebensarbeitszeit im Allgemeinen keine schädlichen Effekte erwartet werden. Für Stoffe, die auf europäischer Ebene einen Arbeitsplatz-Richtgrenzwert erhalten haben, müssen die Mitgliedstaaten einen nationalen Arbeitsplatzgrenzwert festlegen. Sie müssen hierbei den europäischen Wert berücksichtigen, können aber (mit Begründung) nach oben und nach unten abweichen.

Verbindliche Arbeitsplatzgrenzwerte können auf Grundlage von CAD und CMD festgelegt werden und berücksichtigen neben den Faktoren, die auch bei der Festlegung von Arbeitsplatz-Richtgrenzwerten einbezogen werden, auch noch sozioökonomische Aspekte und die technische Durchführbarkeit. Insbesondere für gentoxische, krebserzeugende und atemwegssensibilisierende Effekte werden verbindliche Arbeitsplatzgrenzwerte abgeleitet, für die es nicht möglich ist, einen Schwellenwert zu definieren. Für solche Fälle wird angenommen, dass selbst minimale Expositionen noch zu einem Risiko führen können.

SCOEL leitet auch in diesem Fall Werte ab, hat aber nicht das Mandat, Aussagen zur Risikoakzeptanz zu treffen. Es ist erwähnenswert, dass in 2017 erstmalig der Ausschuss für Risikobeurteilung der ECHA von der Europäischen Kommission aufgefordert wurde, für fünf Stoffe und Stoffgruppen Grenzwerte für den Arbeitsplatz abzuleiten. Die Europäische Kommission schlägt letztendlich einen verbindlichen Grenzwert vor, der für ein hinreichend niedriges Risiko sorgt. Für Stoffe, die auf europäischer Ebene einen verbindlichen Arbeitsplatzgrenzwert erhalten haben, müssen die Mitgliedstaaten einen nationalen Arbeitsplatzgrenzwert festlegen. Sie müssen auch hierbei den europäischen Wert berücksichtigen und dürfen diesen nicht über-, sehr wohl aber unterschreiten.

Neben den Arbeitsplatzgrenzwerten, die durch europäische Grenzwerte „ausgelöst“ werden, existieren auch noch für eine Vielzahl anderer Stoffe in Deutschland Arbeitsplatzgrenzwerte. Alle Arbeitsplatzgrenzwerte werden in Deutschland in der TRGS 900 veröffentlicht.

Unterschiedliche Werte für DNEL/DMEL und AGW

Beide Werte (DNEL/DMEL und AGW) werden als Grundlage für Risikobewertungen bzw. Gefährdungsbeurteilungen genutzt. Der Unterschied liegt insbesondere in der Breite des Ansatzes:

  • Nach CAD/CMD muss jeder Arbeitgeber für seine speziellen Arbeitsplätze eine Gefährdungsbeurteilung durchführen und nutzt hierzu u.a. einen Arbeitsplatzgrenzwert. Gefährdungsbeurteilungen gemäß CAD/CMD sind also arbeitsplatzspezifisch und entsprechend sind AGW zu interpretieren.
  • REACH verpflichtet den Hersteller oder Importeur zur Risikobewertung und zur Ermittlung notwendiger Risikominderungsmaßnahmen. Risikobewertungen nach REACH (und entsprechend die Risikominderungsmaßnahmen) sind daher häufig abstrakt. DNEL sind also für eine breitere Anwendung konzipiert.

Beide Werte werden aus toxikologischen Daten abgeleitet, aber es kann dennoch zu unterschiedlichen Werten kommen, da die Ableitungsmethoden unterschiedlich sind.

Die Methoden zur Ableitung von DNEL-Werten sind in den Leitlinien der ECHA umfangreich beschrieben und werden im Allgemeinen als sehr bestimmend und konservativ empfunden. Bei der Ableitung von Arbeitsplatz-Richtgrenzwerten wird der Einschätzung durch Experten (expert judgement) und Konsultationen der Mitgliedstaaten mehr Bedeutung zugemessen. Zusammenfassend gelten Werte, die SCOEL ableitet, als weniger konservativ.

Diese unterschiedlichen Ansätze führen zu unterschiedlichen, gesundheitsbasierten Grenzwerten für denselben Stoff. Beide Grenzwerte dienen dennoch dem Schutz von Arbeitnehmern, werden aber in unterschiedlichen Rechtsbereichen angewendet. Offensichtlich haben diese Rechtsbereiche aber auch in diesem Bereich erhebliche Überlappungen.

Aus rein wissenschaftlicher Sicht ist es natürlich nicht begründbar, dass Grenzwerte, die dem gleichen Zweck dienen und auf den gleichen toxikologischen Daten fußen, unterschiedlich sind. Solche Unterschiede sollte es nicht geben, auch wenn die Rechtsbereiche sich unterscheiden. Prinzipiell gilt dies natürlich auch für DMEL bzw. Dosis-Wirkungs-Beziehungen auf der „REACH-Seite“ und SCOEL-Abschätzungen des Risikos von adversen Gesundheitseffekten, die als Grundlage für verbindliche Arbeitsplatzgrenzwerte dienen.

In der Vergangenheit sind diese Diskrepanzen für zwei Stoffe (Dichlorbenzol und N-Methyl-Pyrrolidon) offensichtlich geworden, für die es im Rahmen von REACH Beschränkungsvorschläge gegeben hat und für die es auch Richt-Arbeitsplatzgrenzwerte gibt. Für beide Stoffe waren die Richt-Arbeitsplatzgrenzwerte drei bis vier Mal höher als die DNEL-Werte. Verursacht wurden diese Unterschiede insbesondere durch:

  • unterschiedliche Einschätzung der Experten bezüglich des kritischen toxikologischen Effekts
  • Anwendung unterschiedlicher Extrapolationsfaktoren

Diese Fälle haben bisher lediglich zu Diskussionen über, nicht aber zu Lösungen für dieses Problem geführt, obwohl sowohl REACH als auch die Kommissionsentscheidung zur Einrichtung von SCOEL beide Organe (ECHA und SCOEL-Sekretariat) verpflichten, frühzeitig Konflikte in ihren jeweiligen Meinungen zu identifizieren und auszuräumen.

Natürlich führt die Kommunikation und Anwendung von unterschiedlichen Grenzwerten zu Problemen im betrieblichen Arbeitsschutz. Daher hat, zumindest für Deutschland, die BekGS 409 für dieses Problem eine Lösung angeboten. Für den Fall, dass sich AGW und DNEL unterscheiden oder dass es keinen AGW gibt, ist festgelegt:

„Ist der AGW strenger als der DNEL, hat der Arbeitgeber den AGW einzuhalten. Ist der DNEL strenger als der AGW, ist der AGW vom Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) zu überprüfen. In diesem Fall sollten Arbeitgeber sich an den AGS wenden. Gibt es keinen AGW, aber einen DNEL, sollte der DNEL als Beurteilungsmaßstab dienen, der im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung und Wirksamkeitsüberprüfung berücksichtigt werden kann.“)

Autor*in: Urs Schlüter (Diplomchemiker, Stationen der Ausbildung an den Universitäten in Dortmund, Münster und Raleigh NC (USA); seit 2002 bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) mit den folgenden Themen beschäftigt: Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen und Biozidprodukten, europäisches Chemikalien- und Biozidrecht.)